Scharnitzspitze Direttissima 1. Beg.
Meine Erfahrungen im Klettern waren gerade ein knappes Jahr alt und jetzt sollte ich eine Erstbegehung versuchen. Nicht gerade ideale Voraussetzung für einen Erfolg. Allerdings war es für mich eine große Ehre, dass Helmut Baldauf ausgerechnet mich für dieses Ziel ausgesucht hatte. Eine Planung war nicht mehr erforderlich, weil Heli die neue Route bereits bis zum Quergang mit der hohlen Platte vorbereitet hatte, nur der Weiterweg war ihm etwas schleierhaft.
Wir hatten ausgemacht, dass er bis zur Umkehrstelle vorausklettert und dann sollte ich schauen, ob ich eine Möglichkeit finde, die nächste, sehr brüchige und steile Wandstelle zu überlisten.
Zunächst war ich beeindruckt über die ersten beiden Längen, die schon ganz schön zur Sache gehen.
Die zweite Seillänge war hakentechnisch bereits vorbereitet.
Vor allem die abstehende Platte, die fürchterlich hohl klingt, wenn man dran anstößt und die man trotzdem voll belasten muss, wenn man die 7m Querung nach links klettert, wird sicherlich jedem Wiederholer dieser Tour eindrucksvoll in Erinnerung bleiben.
Nach dieser Querung begann das Neuland.
Ich spüre es fast heute noch, wie ich ehrfurchtsvoll die gelbe Wandstelle über mir in Angriff nahm. Kaum jemals sonst war mir so intensiv bewusst geworden, was es bedeutet, als erster Mensch seit dem Bestehen dieses Berges, mit der eigenen Hand nach Griffen zu suchen und mit Geschick einen Weg zu finden da hinaufzuklettern, wo noch niemals jemand Hand angelegt hat. Ich war wie elektrisiert, schlug zwei, drei Haken und kam tatsächlich über die Problemstelle hinauf. Heli kam nach und wir verfolgten das senkrecht verlaufende Risssystem wie erhofft bis auf den Kopf des Pfeilers unter dem Gipfel.
Das Dach beim direkten Ausstieg Die letzte Kante zum Gipfel
Hier gibt es noch eine saftige, ausgesetzte Seillänge direkt hinauf zum Gipfel. Zuerst an einem Dach rechts vorbei, dann gerade an der Kante direkt auf den Gipfel der Scharnitzspitze. Gerade diese letzte Seillänge war mir besonders wichtig, weil nur dadurch die Vorstellung einer Direttissima auch gerechtfertigt erscheint.
Der im Führer beschriebene Weg nach links hinaus auf den Grat ist nicht unser „Weg des fallenden Tropfens“. Nur wer auch diese letzte Länge noch an der Kante direkt hinaufsteigt ist tatsächlich unsere Südwand-Direttissima gegangen. Welchen Stolz wir damals hatten, eine Erstbegehung gemacht zu haben, brauche ich sicher nicht zu erwähnen.
Die Schwierigkeiten haben wir mit VI- angegeben, was eigentlich stets bestätigt wurde. Wir haben damals die Haken zur Fortbewegung benützt, das war ganz normal. Heute hat sich das Klettern längst eindeutig in die sportliche Richtung entwickelt, wo man die Haken nur mehr zur Absicherung verwendet. Unter dieser Voraussetzung ist unsere Tour heutzutage wesentlich schwieriger geworden. Diese Bewertung liegt jetzt im VII. Schwierigkeitsgrad.
Die Erstbegehung fand am 16. Juli 1958 statt. Und schon im kommenden Winter wollte ich unbedingt die erste Winterbegehung dieser Ideallinie auf die Scharnitzspitze versuchen. Mit Horst Aufischer gelang es dann auch auf Anhieb am 15. Feber 1959. Es war dies gleichzeitig die 5. Begehung dieser Tour. Wir hatten ausgezeichnete Verhältnisse und abgesehen von der tiefen Stapferei zum Einstieg, gab es nur mehr blanken Genuss beim Klettern an der „eigenen“ Tour.
Heli Baldauf war mit Heli Wagner an diesem Tag in der Nordwand der Gehrenspitze, die sie nach einem Biwak erfolgreich durchsteigen konnten. Eine wahrhaft echte Winterbegehung in dieser Wand, die sich mit viel Schnee richtig winterlich präsentiert hatte.
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Eine bedrückende Stimmung war allerdings nicht zu verdrängen. Immer wieder ging uns die Nachricht vom Absturz unseres Freundes Toni Egger durch den Kopf, der am 31. Jänner 1959 am Cerro Torre beim Versuch der Erstersteigung sein Leben verloren hatte. Es war noch gar nicht lange her, da hatte uns Toni Egger noch in Innsbruck besucht und tolle Bilder gezeigt von seinen Dolomiten Klettereien an der Rotwand und der dir. Nordwand an der Großen Zinne. Er konnte es schon gar nicht mehr erwarten, bis er damals am nächsten Tag nach Patagonien reisen konnte. Den damals schwierigsten unbestiegenen Berg wollte er mit Cesare Maestri versuchen, all seine Energie hatte er in dieses Projekt gesteckt. Die Vorgänge bei diesem Besteigungsversuch sind heute hinlänglich bekannt, damals glaubten wir an die Geschichte, die der überlebende Maestri hartnäckig bis zu seinem Tode erzählt hatte. Toni Egger war jedenfalls nach dem fünften Biwak am Berg während des Rückzugs im brutalen Sturm abgestürzt.
Ein außergewöhnlicher Alpinist und überaus sympathischer Mensch ist nicht mehr nach Hause gekommen . . .