70 Jahre Gipfelstürmer 1911-1981
Zum Geleit!
von Helmut Ohnmacht
70 Jahre – ein Leben – wie durch Morgennebel sehen wir die kleine Schar die den Weg begonnen.
Gesichter tauchen auf und entschwinden, eine Stimme, ein Lachen, weggeweht vom Wind.
Ihre Spuren in Fels und Eis, sichtbar für mich und dich, doch nicht für jeden.
Manche tragen wir im Herzen mit, dorthin, wo die Grate sich finden.
Verschiedene Wege führen uns nach oben, doch gleich ist der Glanz in den Augen, dort oben.
Lasst uns weiterziehen – gemeinsam – wie bisher!
Morgenlandfahrt – 1979 Schüsselkarspitze-Südwand 3oom (VI-)
von Reinhard Schiestl
Eine Morgenlandfahrt zu machen, das war mein Traum. Das waren die Gedanken vom Spiel mit den Sonnenstrahlen und den Ritzen und Löchern im Fels; verrückte Gedanken . . . Und die Spielregeln haben die Vögel in die Luft gemalt und der Zufall.
Dies war ein Herbsttag, wie ich ihn mir seit langem gewünscht hatte. Wir lagen allein unter der Wand, welche sich in der Hitze zu bewegen schien. Der Felsklotz unter uns hatte eine angenehme Wärme und über dem kleinen, zur Wand hin ansteigenden und gröber werdenden Schotterfeld, in dem er wie eine winzige Tribüne aufragte, flimmerte die Luft und gelber Staub. Aber diese allgemeine Ruhe, welche durch die dunstenden Felsen atmete, welche die ganze Welt nur aus wärmenden, grauen und grünen Farben bestehen ließ, diese Ruhe wurde in uns zu einem Fest der Gedanken und Phantasien. Da wuchsen Linien zwischen Rissen und Platten hervor und ich wunderte mich und freute mich, dass niemand vor uns einfach aufgebrochen ist in einen so blauen Tag wie diesen und solche Linien zu verweben suchte.
Unser ursprünglicher Plan hatte sich aufgelöst, wie die Wölkchen im Süden; unmerklich, von diesen anderen Träumen überrascht. Doch plötzlich war der Stein, auf dem wir eben träumten, viel zu klein für uns. Wir sind aufgestanden und reckten den Rücken, die Arme – und die Katze auf einem Blechdach macht dasselbe, wenn sie sich beim Dösen entschließt eine Maus zu fangen – und Luggi strich sich seinen Frack glatt und ich leerte die Rucksäcke. Während die Karabiner in der Sonne glänzten, wusste ich, dass uns heute ein schöner Fang gelingen würde und die Gedanken flogen voraus, mit den Vögeln um die Wette, während ich mit mir selber in den Platten spielte.
So haben wir denn unsere Tribüne verlassen, um eine Linie zu schreiben, in der wir unsere Gefühle und Gedanken Tritt für Tritt hinterlegen wollten. Als ich auf meine Uhr schaute, war es Mittag vorbei. Da standen wir auf einem Band mit weichem Gras und das Geröll mit den vereinzelten größeren Felsblöcken flimmerte jetzt unter uns. Von hier an begannen wir unsere Morgenlandfahrt zu machen. Eine Fahrt, wie es sie schon vor bald 50 Jahren hätte geben können, welche aber der Zufall für uns bereitgehalten hatte (Und so stand für mich schon der Name fest, bevor wir noch einen Schritt in den Felsen getan hatte).
Über eine kurze Platte gelangte ich zum Beginn eines deutlichen Risses. Doch jetzt sperrte ein kleiner Überhang den Weg und ich stehe darunter, auf einem Absatz aus Gras und rede mit mir selber. Der Kopf ist zurückgebeugt, während ich die Fingerspitzen trockne, während die Umgebung blasser und leiser wird. Ich getraue mich nicht sofort, den entscheidenden Schritt zu tun, aber die Wärme und Ruhe löscht jede Angst, sie lässt mich fast eins werden mit diesem winzigen, grauen Stück Fels. Ich wische die Finger nochmals an der Hose ab und nehme wieder das kleine Loch für die linke Hand; die Füße haften auf Reibung an der glatten Platte. Jetzt musste ich nur ganz hoch greifen, eine Ewigkeit für mich, und wenn erst die Hand im Riss war, durfte ich nicht mehr loslassen.
Im Nachhinein war dann alles einfach. Ich erwischte den Riss am untersten Rand und bevor die Füße noch rutschten, konnte ich den guten Griff darüber fassen . . . Nun schaute ich zu Luggi hinunter und musste lachen, weil ich plötzlich wieder alles andere um mich herum sah, weil der Weg nun zu einem Großteil geöffnet schien. Während er nachstieg, suchte ich Gämsen im Kar und blinzelte den Dohlen zu. Dabei konnte ich sonnenliegen und träumen und meine Freude genießen. Dann wurde das Gelände für eine Zeitlang leicht. Mir blieb keine Zeit mehr, die Gedanken mit den Dohlen schweben zu lassen. Das Seil glitt über vereinzelte Rasenpolster wie eine flinke Schlange. Der flache Wandteil steilte sich aber bald wieder auf. Ein seichter, plattiger Kamin führte gerade unter eine große Höhle und an Löchern hatte Luggi einen dürftigen Stand eingerichtet. Meine Gedanken wanderten zurück in die Marmolada. Auch dort hatte ich oft Löcher gesucht in glatten, scheinbar haltlosen Platten. Das war immer ein besonderes, oft eigenartiges Steigen, das mehr einem vorsichtigen Schleichen glich, weil man oft nicht wusste, ob da nicht plötzlich die Griffe zu Ende wären. Und jetzt standen wir an so einer Stelle und rätselten um den besten Weiterweg.
Zuerst versuchte ich es gerade, aber der kleine Wulst ober mir war zu glatt. Knapp links daneben war der Kamin etwas flacher, mit kleinen Dellen und Löchern versehen, an denen ich jetzt vorsichtig höherspreizte. Danach verschwanden die hellen, freundlichen Farben im Schatten. In einer Mulde hatte ich kurz gerastet, um die folgende Stelle zu. prüfen. Dabei spürte ich, dass sich mit dem Licht auch die Stimmung änderte, wie mich eine leise Bedrücktheit umgab. Und auch der Fels wurde jetzt dunkel, splittrig. Ich schlug mehr Haken als üblich und es war nicht mehr dieses leichte, gedankenverlorene Steigen, welches ich so mochte. Ich war froh, als ich unter dem Höhlenüberhang Stand machen konnte.
Die Höhle ober mir glänzte schwarz vor Nässe, welche in feinen Fäden den Fels benetzte – und der gelbe Bauch am Rand schaute sehr schwer aus. Ich sah nun dem Seil zu, welches in langsam ruckenden Bewegungen, in ungleichmäßigen Schwingungen den Fels streifte, um dann vom Klettergurt gestoppt zu werden. Und ich horchte in die Ruhe, welche nur durch vereinzelte Tropfen aus dem Loch über mir oder dem Scharren meines Freundes, der diese Länge vorstieg, unterbrochen wurde. Es war ein sehr starker Ruck der mich plötzlich in die Selbstsicherung riss und das Seil war jetzt straff und dünn und es schlängelte nicht mehr in der Luft, sondern wippte wie ein großes, gedehntes Gummiband.
Da war nur mehr dieser gelbe Überhang. Danach wäre die Kletterei leicht – eine Verschneidung, eine Wandstelle, der Grat . . . Nur dieser verflixte Überhang und Luggi dachte wahrscheinlich gleich wie ich. Man müsste nur die Kante am Ende erwischen, der Rest wäre einfach. Es war dann wirklich nicht die schwerste Stelle; man durfte sich nur nicht links abdrängen lassen. Als wir schließlich in einer Scharte am Grat standen, schien noch etwas die Sonne. Ich dachte zurück an diesen langsamen Sommer – und zufrieden warf ich ein Steinchen über die Wand.
Tod in der Riepenwand
von Hubert Niederegger
11. l0. 1953: Es ist einer der letzten schönen Herbstsonntage in diesem Jahr. Wir sind noch einmal hinaufgestiegen zum Gipfel der Großen Ochsenwand, schauen hinüber in die Ostwand der Riepenwand und ich erzähle meinen Kameraden von jenem traurigen Schicksal, das sich vor Tagen dort abgespielt hat.
Montag, 5. 10. 1953: Am späten Nachmittag rief mich Herbert Ohnmacht im Büro an und sagte: “Hubert, kimm glei in die Bergrettung, mit dem Hans is eppas passiert!”. Ich eilte nach Hause und bald darauf stand ich inmitten eines Haufens von Bergrettungsleuten. Ich war erstaunt, wie viele da waren und es stellte sich dann für mich heraus, dass ein Großeinsatz gerade zu Ende gegangen war. Bevor ich noch so richtig zum Fragen kam, stürmten Herbert Ohnmacht und Hans Gogl bei der Tür herein und packten mich am Arm: “Kimm schnell in den Jeep, du wirst gleich alles erfahren!”. Um 18 Uhr brausten wir beim Tor hinaus in Richtung Schlick. Als wir dort eintrafen, war bereits die Nacht hereingebrochen und ich wusste nun, dass drei Kameraden, Schmidhuber Hannes, Cartellieri Manfred und Glätzle Karl, vermisst waren. Sie waren an der zuvor zu Ende gegangenen Bergung beteiligt gewesen und vermutlich in die Ostwand der Riepenwand geraten, aus der sie scheinbar keinen Ausweg mehr gefunden hatten. Doch es bestand immer noch eine Chance sie heute noch zu finden. So eilten Hans Gogl, Herbert Ohnmacht und ich bestens ausgerüstet und voller Hoffnung hinauf zu der Schlucht, die zwischen der Großen Ochsenwand und der Riepenwand herabzieht. Wir waren auch bald oben, setzten uns die Stirnlampen auf und kletterten die Schlucht hinauf. Dort leuchteten wir die Wände ab und riefen im Chor: “Haaaanes!”, dass es nur so schallte – aber rundum blieb alles still. Ein eigenartiges, ungutes Gefühl überkam uns bei dem Gedanken, dass man uns kilometerweit hören musste und trotzdem keine Antwort zurückkam. Der Fels war vereist, der feine Regen hatte aufgehört, es blies ein eisiger Wind und die Nacht war stockdunkel. Wir kletterten weiter bis wir auf die Scharte kamen; wir hatten aufgehört zu rufen und beschlossen, in aller Frühe weiterzusuchen. Wenn sich die drei Kameraden nicht bis zur Adolf Pichler-Hütte durchgekämpft hatten, unsere große Hoffnung, dann hatte sich eine nicht auszudenkende Katastrophe abgespielt. Wir verscheuchten die schaurigen Gedanken und stiegen das beinhart gefrorene Kar hinab zur Hütte. Mitternacht war schon vorüber. Der Hüttenwirt begrüßte uns und wir erfuhren, dass Manfred Cartellieri und Karl Glätzle durchgekommen waren und jetzt erschöpft oben im Lager schliefen. Hannes Schmidhuber aber war oben geblieben und wir mussten nun das Schlimmste für ihn befürchten.
Der Hüttenwirt erzählte uns dann wie die ganze Geschichte begonnen hatte, während wir heißen Tee tranken und mit unseren Gedanken noch halb in der eiserstarrten Riepenwand waren. Sonntag, am späten Vormittag: Herbert Ohnmacht und Karl Glätzle, die in der Kleinen Ochsenwand kletterten, wurden von Hannes Schmidhuber und Manfred Cartellieri aus der Wand gerufen, denn in der Riepen-Nordwestwand war jemand abgestürzt und Hilfe notwendig. Von der Seilschaft Bichler Franz und Wackerle Christof war Ersterer in der Ausstiegsschlucht gestürzt und hatte sich am Rücken und Fuß verletzt. Die vier stiegen zum Gipfel der Riepen auf und Schmidhuber leitete das Bergungsmanöver. Er selbst stieg bis zur Hälfte in die Schlucht, von wo er Ohnmacht, der vom Gipfel abgeseilt wurde, einwies. Es regnete bereits in Strömen. Die Rettungsmannschaft und die Geretteten mussten aber trotzdem wegen der hereinbrechenden Dunkelheit an zwei verschiedenen Stellen der Schlucht biwakieren. Der Regen verwandelte sich bald in Schnee. Noch in der Nacht versuchte nun die Gipfelmannschaft, nämlich Schmidhuber, Cartellieri und Glätzle, Hilfe heranzuholen und wollte zu diesem Zweck über den Nordgrat absteigen. Im Schneetreiben und Nebel verirrten sie sich aber in die Ostwand. Bei Schmidhuber, der sich bei der Bergung bereits ziemlich ausgegeben hatte, machte sich bereits ein Kräfteverfall bemerkbar. Sie suchten einen Ausweg nach oben, scheiterten aber bald an den vereisten Felsen und so blieb ihnen nur mehr der Weg weiter hinunter. Haken, Karabiner, Seile und Schlingen besaßen sie keine mehr, da sie alles bei der Bergung gebraucht hatten. So blieb ihnen nur mehr die Möglichkeit, auf Bändern hin und her zu steigen, bis sich zwischendurch wieder eine Möglichkeit ergab, weiter hinunter zu gelangen. Bis zum Nachmittag des folgenden Tages riefen sie auch immer wieder um Hilfe, doch ohne Erfolg.
Herbert Ohnmacht, der in der Frühe auf den Gipfel der Riepen gestiegen war, wusste natürlich von all dem nichts und nahm an, dass die Rettungsmannschaft, die inzwischen auf dem Gipfel eingetroffen war, von seinen Kameraden gerufen wurde. Zum Fragen war auch keine Zeit mehr, denn die beiden Verunglückten mussten aus der Schlucht mit dem Stahlseil geborgen und dann über den Nordgrat abgeseilt werden. Bei diesen Manövern wurden auch noch zwei Rettungsmänner vom Steinschlag getroffen und verletzt, so dass, auf der Scharte angekommen, schließlich drei Verletzte abzutransportieren waren. Zu diesem Zeitpunkt wurden nun Hilferufe gehört, aber niemand fand sich, der diesen Rufen nachgegangen wäre. Eine Rufverbindung hätte die Verirrten, besonders Schmidhuber, bestimmt moralisch aufgerichtet. Doch man war zu sehr mit sich selbst beschäftigt und das widrige Wetter tat seines noch dazu. Ein einziger, allerdings ortskundiger und beherzter Mann hätte das Unglück, das nun geschehen sollte, verhindern können. Aber wir wissen alle zu gut, wie bei ähnlichen Katastrophen das Schicksal der Beteiligten an einem seidenen Faden hängt.
Hans Gogl und ich gingen nicht schlafen, sondern stiegen im Dunklen wieder zur Riepenscharte hinauf. Herbert Ohnmacht ging über die AK-Scharte in die Schlick, um die Eltern von Cartellieri, die dort warteten, zu verständigen. Wir hatten Glätzle Karl geweckt und uns die Stelle beschreiben lassen, wo sie Hannes zurücklassen mussten, als er nicht mehr weiter konnte. Wir erfuhren von ihm, dass die senkrechte Wand, die sie in Todesangst abgestiegen waren, unmöglich von Hannes zu bewältigen gewesen wäre. “Warum ist keiner von Euch bei Ihm geblieben?” war natürlich unsere Frage. “Es ging um unser Überleben, Hannes hat gesagt – geht, geht, rettet Euch! Sie sind gegangen und während sie die gleiche Schlucht hinaufstiegen wie wir zuvor, hörten sie noch einen Verzweiflungsschrei von Hannes, dann war es still. Die beiden haben sich dann noch einmal verstiegen und sind völlig erschöpft über einen Weg zur Hütte gelangt, den sie nachher selbst nicht mehr rekonstruieren konnten. Vom Nordgrat der Riepenwand aus suchten Hans Gogl und ich beim Morgengrauen alle Bänder ab, fanden aber nichts. Ich stieg dabei immer ganz bis zu den Abbrüchen der Schlucht hinaus,
Hans fast bis zur Wandmitte. Die hundert Meter von Karls Beschreibung waren schon längst hinter uns. Im Nebel und Regen mag hier wohl alles ganz anders ausgeschaut haben. Wir seilten uns ab und suchten weiter, stiegen auseinander und trafen uns wieder, stiegen weiter hinab. Endlich entdeckte ich, zusammengekauert, Hannes ca. 8o Meter unter mir. Ich rief Hans und obwohl ohnehin alles zu spät war, stiegen wir wie die Irren tiefer und standen schließlich erschüttert vor ihm.
Er hing mit einer Reepschnur an einem winzigen Felsvorsprung, seine wasserblauen Augen waren gebrochen, sein Gesicht aber frisch und wir warteten beide, dass er mit uns zu sprechen beginne – welch wirre Wunschgedanken! Wir fassten unseren toten Kameraden an und seilten ihn vorsichtig die Steilwand hinunter, wo er von den vielen Bergrettungskameraden aus Fulpmes in Empfang genommen wurde. Damit schien alles vorbei, wir schauten uns schweigend an – wo gehen wir nun weiter? “I schau amol da oben!” sagte ich und stieg einige Meter hinauf, um in die Schlucht zu sehen. Oben angelangt, blieb ich wie angewurzelt stehen”, denn vor mir führte ein leicht zu kletterndes Band in die Schlucht hinein, das einzige in dieser Riesenwand. “Was hosch denn?”, fragte der Hans. ‘Da schau obi!” rief ich und beide wischten wir uns über die Augen, um die Wunschgedanken, die uns unser Hirn anscheinend vorspielte, wieder wegzuscheuchen. “Geh leck mi decht am Arsch, des darf nit wahr sein!”, sagte noch mein Freund, dann sprachen wir nichts mehr, sondern stiegen mit hängenden Köpfen ins Tal und haderten im Gedanken mit dem Schicksal . . . .
Wachgerüttelt wurden wir erst, als wir die vielen Bergsteiger in der Schlick sahen – da war ja halb Innsbruck heroben! Alles bekannte Gesichter, junge, alte, traurige und lachende und über dem Ganzen eine fast feierliche Stimmung. Mitten durch die Menge fuhr dann ein Jeep mit uns und unserem toten Kameraden auf dem latschengeschmückten Anhänger die holperige Straße hinaus nach Fulpmes. Es war ein strahlender Herbsttag und es wollte nicht einmal Traurigkeit aufkommen.
HIUNCHULI – Die schuhlose Illusion
von Wiedman Otti
Wie die Gottheit Siva hat Nepal drei Gesichter: Die zerbröckelnde Kultur, die Menschen und die Himalayaberge. Pagoden, Lamaklöster, die Eisriesen in Ost und West, die gottesfürchtigen Menschen in Ihrer Armut und Zufriedenheit, alles versprüht soviel knisternde Abenteuersehnsucht, dass man es einfach sehen muss. Man muss kein Bergsteiger sein, um Nepals Atem zu verspüren. Ist man es aber, so ist es kein Nachteil. Wir sind diesmal zu fünft. Rolli, Walter und Bruno, die Kumpels vom Mt. Kinley und Paul, mit dem ich einst eine jahrelange Lebensspanne im Fels der Tiroler Berge und in den Kneipen und Wirtshäusern verbrachte. Unser Ziel ist der bislang offiziell nicht erstiegene Lang-Shisa-Ri im Langtanggebiet im Norden Kathmandus, direkt an der Grenze zu Tibet. Schon auf dem Weg nach Nepal haben wir markante Eindrücke zu vermerken. Die hoffnungslose Armut Indiens, der Prunk ‘ und Reichtum der ehemaligen Herrscher, symbolisiert im Marmorglanz des Tadsch Mahal. Die unzähligen Familien, die ohne Dach über dem Kopf auf den Straßen Delhis leben, ohne Zukunft, ohne Erinnerung, in einer Agonie der Ungerechtigkeit. Dann der Flug von Delhi nach Kathmandu mit dem Blick auf die Achttausender Dhaulagiri und Annapurna. Wir überfliegen Lumbini, die Geburtsstätte Buddhas, den Dschungel des Terai und können bald auch die östlichen Himalayariesen bewundern, ehe sich die Maschine anschickt, in den Nebel des Kathmandutales zu stechen. Die ersten Reisfelder der Bergbauterassen werden sichtbar und auch die im Morgenlicht der durchkommenden Sonne glänzenden Dächer der Pagoden und Stupas.
Uns nimmt das geschäftige Treiben in den Straßen Kathmandus bald auf. Wir erfahren, dass unser geplanter Flug ins Langtang frühestens in ca. 6 Tagen erfolgen kann. Nach zähen Verhandlungen bekommen wir das “Permit” und die Flugzusage für den nächsten Tag. Am frühen Morgen stehen wir am Flugplatz, aber nach stundenlangem Warten wird der Flug wegen indiskutabler Wetterverhältnisse abgesagt. Ein zweiter Versuch – so sagt man uns – kann erst in etwa 6 Tagen erfolgen. Im Regierungsbüro studieren wir die Liste der freien Sechstausender, für die eine Genehmigung sofort erhältlich wäre. Unsere Wahl fällt auf den 6450 m hohen Annapurna-Fluted Peak, da An- und Abmarsch in ca. 10 -11 Tagen zu bewältigen sind. Am späten Nachmittag verladen wir unser ganzes Gepäck in einen Landrover und gelangen zusammen mit unserem angeheuerten Sherpakoch Tendi in siebenstündiger Fahrt nach Pokhara. Am Morgen gibt’s bereits wieder große Probleme. Bedingt durch das “Dasain” (Erntedankfest) ist es uns nicht möglich, die erforderliche Zahl an Trägern aufzutreiben. Nach mehrstündigen, vergeblichen Bemühungen erklären sich einige der Angeheuerten bereit, gegen höhere Besoldung doppelte Lasten zu tragen. Nachmittags ziehen wir mit einem flauen Beigeschmack in unserem Magen los. Wie sollen wir mit den überladenen Trägern den vorgesehenen Tag bis zum Basislager einsparen? Trotz großer Kuliprobleme erreichen wir tatsächlich nach fünf Tagen das Annapurna Basislager.
Die Marschtage waren ein kaum zu überbietender Ablauf von wildromantischen Landschaftsbildern. Da waren zuerst die Katen der Tibeter, die friedlichen Siedlungen auf der großen westnepalesischen Handels- und Wanderroute zum Kali-Gandaki-Fluß. Dann der großartige Dschungel des Modi Khola, dieser riesig tiefen Schlucht am “Ende der Welt” und am unmittelbaren Fuß des Machhapuchhare, des heiligen Berges. Weiter oben im steilen Dschungelwald tummeln sich tausende Affen im Geäst. Ihre Urschreie kommen aber nicht richtig zur Geltung, denn sie werden meist von den tosenden Wassermassen der Schluchtfälle übertönt, so als ob sie Zeugnis ablegen müssten über die Übermacht der Elemente gegenüber den Lebewesen. Dann plötzlich entsteigt man den schattigen Pfründen und wilde Siebentausender-Gletscher tun sich dem Auge auf, im Talschluss als Krönung die 3500 m hohe Südwand der Annapurna I (8091 m). Am berühmten Platz des englischen Basekampes beziehen wir ein provisorisches Lager. Neben der Annapurna I und dem Modi Peak sehen wir erstmals die wild zerklüftete Steilheit des Hiunchuli, der an die Sechstausender der Cordillera Huayhuash erinnert. Unser Basislager soll höher oben am Platz des Tent-Peak-Hochlagers entstehen. Bereits am nächsten Morgen sind wir dorthin unterwegs. Es muss zuerst die riesige Moräne des Sanctuary-Gletschers überquert werden. Unser so genanntes Sturmbasislager entsteht schließlich auf ca. 4650 m an einer steilen Wiese. Ich bin der Kolonne vorausgeeilt und steige gleich weiter bis zu einem Vorzacken des Rocky Peaks, um die Möglichkeiten am Fluted Peak zu erkennen. Die Schwierigkeiten erscheinen mir gut lösbar und zufrieden kehre ich zurück zum Lagerplatz. Wieder sticht mir die Formschönheit des Hiunchuli ins Auge. Ich ertappe mich dabei, eine konkrete Anstiegslinie zu suchen. Die Bezugspunkte verlaufen am Grat, der hinausläuft bis zu den Abbrüchen des Modi-Khola-Urwaldes.
Durch das emsige Auspacken und Sortieren der Freunde werde ich aus diesen Gedanken gerissen. Im Nu entsteht eine kleine Zeltstadt, da Max und Brenda sich uns angeschlossen haben. Die Träger werden entlohnt und entlassen. Jetzt fällt uns plötzlich auf, dass ein kompletter Packsack fehlt. Wir eilen den Trägern nach, aber keiner hat natürlich diesen Sack. Beim Blick durch die Runde wird uns klar, dass ein Mann fehlt. Er muss sich heute abgesetzt haben und ist natürlich nicht mehr einzuholen. Zurück im Lager wird registriert, was fehlt: Unwesentliches und meine Expeditionsbergschuhe. “Was tut dieser gottverfluchte Träger mit meinen Bergschuhen?” denk ich mir. “Verkaufen natürlich; aber kann dieser hirnlose Mensch nicht verstehen, dass ich l0.000 km geflogen, gefahren und gegangen bin und jetzt 2 km vor dem Ziel aufgeschmissen bin.” denk ich mir weiter. Die Besprechung mit den Freunden verläuft nüchtern, deprimierend. Alles ist zu ersetzen, nur die Bergschuhe nicht. Am nächsten Morgen machen die anderen eine Erkundung, während ich zum Camp einer amerikanischen Gruppe absteige. Aber die haben auch kein Reservepaar dabei und etwas verzweifelt kehre ich zu unserem Lager zurück.
Die Freunde kommen auch ohne Zuversicht von ihrer Erkundung. Ohne mich wollen sie den Berg nicht wagen. Am nächsten Tag steige ich nochmals die 550 Höhenmeter ab zum Annapurna Basecamp, wo wieder eine neue Gruppe zu erwarten ist. Aber niemand hat ein zweites Paar Schuhe und dem etwas erkrankten Amerikaner – in den ich meine letzte Hoffnung setzte – geht es auch wieder besser. Die Freunde wollen nun am nächsten Tag auf den Tent Peak und dann die bergsteigerischen Aktivitäten beschließen. Um 5 Uhr brechen sie auf, ich schlafe weiter, denn der Tent Peak ist eine Eistour, die nur mit gutem Schuhwerk zu machen ist! Später wandere ich Richtung Gangapurna, um den vorgelagerten Felsgipfel zu erklimmen. Aber da ist von Fels keine Rede. Ich stehe einem verwitterten, morschen Schotterhaufen gegenüber und kehre lustlos zum Lager zurück. Es ist erst 8 Uhr und der Tag ist noch jung. Vielleicht kann man die Eisflanke am Tent Peak über eine Felsrippe umgehen? Voll neuem Auftrieb eile ich die Schotterhalden hinauf zum Gletscher. Weit oben sehe ich die Kameraden in der Eisflanke und links davon eine kurz unterbrochene Felsrippe bis zum Gipfel leiten. Mit meinen “Laufschuhen” erreiche ich die kurze Eisflanke, die zum Fels führt. Mit Pickeleinsatz gelange ich zur stark verblockten, aber trockenen Felszone und in leichter, schöner Kletterei (II-III) direkt in Gipfelfallinie komme ich noch vor den Freunden zum höchsten Punkt. Der Höhenmesser zeigt 5720 m und es gibt eine große Begrüßung unter tiefblauem Himmel.
Anderntags übersiedeln wir hinunter ins Annapurna Basecamp. Zuerst wollte Max mit mir zum Hiunchuligrat, aber nachdem es Brenda sehr mies ging, entschließt er sich, mit den anderen abzusteigen. Seine 15 Jahre alten Bergschuhe überlies er mir, da es die einzigen sind, die mir halbwegs passen. Tendi bleibt bei mir im Lager, alle anderen marschieren Richtung Kali Gandaki. Um 3 Uhr bin ich bereits auf den Beinen, mein Auftrieb erscheint mir fast bedenklich. Der NO-Grat am 6410 m hohen Hiunchuli scheint ganz links über ein Felsband gut erreichbar zu sein, der Grat selbst mit Ausnahme einiger Steilstufen gut gangbar. Das Felsband stellt sich aber wieder einmal als riesiger Schotterhaufen dar und ich ziehe einen Versuch weiter rechts in einer steilen Schnee- und Eisrinne vor. Zuerst geht’s gut, aber nach oben hin wird das Eis immer steiler und härter. Meine ganze Eisschlosserei, bestehend aus 3 Firnhaken und 5 Eisschrauben kommt zum Einsatz. Es kostet viel Zeit bis ich endlich am Grat bin. Dann geht’s wieder flott weiter. Ich überlege, was ist mein Ziel. Ich merke, ich habe gar keines, was für eine komische Situation. Mein Wunsch ist einfach zu steigen. “Aha!”, ich blicke auf den Höhenmesser, jetzt weiß ich ein Ziel, die Sechstausendmetergrenze. Bald ist sie erreicht, aber es gibt kein Anhalten, der Grat verläuft weiter passabel. Es wird manchmal zwar ziemlich luftig, aber diese Schwierigkeiten sind nur dazu da, die Kletterfreude zu erhöhen. Frei aller schweren Gedanken steige ich weiter, immer die Annapurna Südwand vor Augen. Ich fühle mich vertraut mit all diesen riesenhaften Dimensionen und klettere ohne Kopfweh und ohne Atembeschwerden, ich tue etwas, was mir für mich wichtig und sinnvoll vorkommt, obwohl ich noch immer kein richtiges Ziel vor Augen habe.
Plötzlich wird meinen Gedanken und Schritten Einhalt geboten, der Grat wird von einem großen Eisbalkon versperrt. Jetzt suche ich zum ersten Mal eine Möglichkeit zum Gipfel zu gelangen, nun habe ich plötzlich das sonst logische Ziel. Mir wird bewusst, ich stehe ca. 50 m unterm Vorgipfel und von diesem bis zum Hauptgipfel gäbe es keinerlei Schwierigkeiten. Aber diese Eisbarriere hier! Eine Umgehung links an der Ostseite erscheint mir möglich. Das 40 m-Seil wird wieder ausgepackt, dann schlage ich zwei Firnhaken und taste mich hinaus in die steile Flanke. 20 m sind bald überwunden, nun dauert es aber lange bis ich eine vernünftige Sicherung anbringe. So an die sechsmal müsste ich dies wiederholen, um sicher in die Einsattelung zwischen Vor- und Hauptgipfel zu gelangen. Erstmals seit Erreichen des Grates blicke ich auf die Uhr. Es ist fast 16 Uhr, ein Biwak am eisigen Gipfelgrat wäre unvermeidlich. Ein Biwak mit untauglichen Schuhen. Die Angst um meine Füße besiegt den Willen und die Vernunft die zweifellos noch vorhandenen Kräfte. Für mich gilt es nun, rasch abzusteigen, um noch vor Einbruch der Dunkelheit weit hinunter zu kommen. In der Eisrinne seile ich 5 mal ab und weiter unten im Schutze von Felsen beziehe ich das unvermeidliche Biwak. Jetzt erinnere ich mich an meinen Abenteuertraum, als ich vor sechs Tagen gegenüber unter den Felsen des Rocky Peaks saß. Ich war wach und träumte und spielte das heute Erlebte in Gedanken durch. Das Unrealistischste wurde heute teilweise Realität, aber auch gleichzeitig unter dem letzten Eisbalkon des Vorgipfels zur Illusion.