Martelspitz 1574m
Er ist ein scheinbar unbedeutender Zacken am Ostgrat des Ebnerjoches, aber seit Jahrhunderten ein Weide– Gemeinde- und auch später ein Bezirksgrenz- Punkt. Schon seit meiner Kindheit hatte ich „Sichtkontakt“ mit ihm. Ihn einmal zu besteigen war mein sehnlichster Wunsch. Trotz meiner späteren „Alpinen Erfolge“ bin ich immer wieder gerne zum „Martl“ heimgekehrt. Besonders beeindruckt hat mich der seit den 1960er Jahren eingesetzte „Verfall“ dieses Berges. Süd- Ost- und Nordwand sind teilweise stark abgebrochen und heute nicht mehr begehbar.
Der prominenteste Besucher dieses Zapfens war der legendäre Hias Rebitsch. Sein Eintrag in das (heute nicht mehr vorhandene) Gipfelbuch: „Abendlicher Spaziergang von Brixlegg, Hias Rebitsch”
Erste Winterbegehung der „Tangente“ am Martelspitz
(Ostgrat)
am 15. Feber 1991
Die Tangente ist eine Gerade, die eine Kurve an einem bestimmten Punkt berührt.
Etwas enttäuscht, weil ich schon das dritte Mal hier bin, sitze ich unter dem Zdarsky am Ende des Jagdsteiges im Schichteneder. In der Nacht fiel 15 cm Neuschnee, am Morgen hellte es auf, nun hat sich aber wieder Schneegestöber eingestellt. Die plötzlich durchbrechende Sonne bereitet endlich dem Warten ein jähes Ende. Aber der Auftrieb meinerseits ist durch das gezwungene Anhalten etwas gedämpft. Trotzdem beginne ich mit dem schweren Rucksack aufzusteigen. Bald erreiche ich das steile, erdige Couloir, quere es aber infolge der schlechten Erfahrung vor einer Woche, schon gleich ganz unten. Rasch gewinne ich an Höhe, später erklettere ich die heikle Engstelle. Der Pickel leistet mir wertvolle Dienste bei der Überwindung der gefährlichen Passagen. An der Scharte angekommen, wende ich mich sofort dem Grat zu. Trotz des tiefen Schnees komme ich gut über die Südquerung und Rinne zur ersten Turmscharte hinauf. Das Wetter hat sich endgültig gebessert, obwohl es immer noch leicht schneit. Herrlich ist die Winterlandschaft und die Ruhe die mich umgibt. Nach einer kurzen Verschnaufpause erfolgt der aufreibende Aufstieg durch die tiefverschneiten Latschen.
Teilweise sind noch die „Gräben“ vom 18. Jänner erkennbar. Nach einer guten halben Stunde Wühlerei sichte ich den eigentlichen Gratansatz, wenig später wird der Einstiegsstandplatz vom Schnee befreit. Ein Blick nach oben lässt mich erschauern: Gelingt es trotz des Schnees und der Vereisung den Gipfel zu erreichen? Während ich an einem trockenen Brot kaue, richte ich mich her. Stark empfinde ich die Isoliertheit und die Einsamkeit. Ruhig wird noch die Überhose und der zweite Anorak angezogen und das lange 55 – Meter – Seil am Köpfl verankert.
Nun kann´s losgehen, bekränzt mit einer Anzahl von Haken und Karabinern. Wesentlich schwerer als am 18. Jänner ist die Querung – der Schnee bindet nicht mehr – bis zum ersten Sicherungshaken. Weiter geht es waagrecht zur heiklen Stelle. Alles geht sehr schnell: Plötzlich bricht ein Block aus, 5 Meter tiefer hemmt das Seil den Sturz. Dabei hab ich mir den linken Fuß angeschlagen und die Überhose weit aufgerissen. Gleichgültig jümare ich zum Stift hoch. Der zweite Versuch gelingt, erleichtert hänge ich beim nächsten Haken ein. Von hier sind es noch 10 Meter bis zum Umkehrpunkt im Jänner. Aber so leicht tu ich mir heute nicht, weil der Riss mit Schnee total vollgepresst ist. Endlich Stand beim Ringhaken.
Zuerst versuche ich die Tritte und Griffe frei zu legen, ehe höher gespreizt werden kann. Aber wegen der Eisglasur muss bald eine Ritze ausfindig gemacht werden. Schließlich klappert ein kurzer Querhaken bis zur Öse doch noch hinein. Nun murkse ich den Riss hinauf – im Sommer mäßig schwieriges Gelände – jetzt verlangt er äußerste Aufmerksamkeit. Wild schnaufend mache ich Stand bei der Platte. Erst nach längerer Suche finde ich den Quergangshaken. Ob die Traverse bei diesen Verhältnissen überhaupt möglich ist – frage ich mich?
Aber es sollte nicht der Schnee sein der hemmt, sondern die dünne Eisschicht. Mit dem Eisbeil mache ich eine kleine Leiste frei, einen fraglichen Tritt. Zudem lassen die behandschuhten Hände ein Fassen allzu kleiner Griffe nicht zu. Da! Wie vorauszusehen rutsche ich aus, verliere das Gleichgewicht und wie ein Perpendikel pendle ich hinüber, zurück. Krachend schlägt mein Körper an der rechten Begrenzungswand auf. „Nur nicht aufgeben“, rede ich mir selbst zu. Wenig später an der Flugstelle angelangt, gelingt es mir, einen Messerhaken unterzubringen und mit dessen Hilfe kann auch der Tritt oberhalb der kleinen Latsche erreicht werden. – Nur mehr 5 Meter. – Konzentriert, präzise steigend, kann ich endlich das kleine Podest betreten.
Ich befinde mich jetzt unmittelbar an der Kante die zur Terrasse leitet. Links bricht die Südwand über 100m ins Kar ab. Langsames Höhertasten, sorgfältig wird der Schnee abgeräumt, um Tritte und Griffe frei zu bekommen. Endlich kann ich mit den Händen den Rand der Terrasse fassen. – Ein kräftiger Klimmzug – und oben bin ich. Die Sonne strahlt mir ins Gesicht, grandioses, winterliches Gelände umgibt mich. Rasch wird eine Verankerung um einen Gratkopf gebaut. Ein jäher, unsinniger Gedanke schießt mir durch den Kopf: Wenn mir jetzt das Seil entgleiten würde, könnte ich weder auf noch absteigen und wäre hier gefangen. Ein Blick auf die Uhr bringt mich in die Wirklichkeit zurück und mahnt zur Eile. 14Uhr 30: Abseilfahrt mit der provisorischen Karabinerbremse, weil ich den Achter drunten vergessen hatte.
In weniger als 10 Minuten war ich beim Einstieg. Alles wurde eingepackt, die Verankerungen gelöst und anschließend mit den Jümars hochgestiegen. Die teilweise recht anstrengende Haken-Heraus-Schlagerei nimmt relativ viel Zeit in Anspruch. Schweißtriefend trotz der enormen Kälte, lange ich bei der Terrasse ein. Nun gilt es noch die äußerst brüchigen Gratfelsen zum Gipfel hinauf zu begehen. Vom Felsen ist überhaupt nichts sichtbar – dieser Gang erfordert totalen Einsatz. An einer haarigen Stelle dresche ich noch zur Sicherheit zwei lange Eishaken in den Fels. Oben angelangt, kann ich endlich am schmalen Gipfelband zum Abseilhaken am Südwestgrat hinüber queren. Welche Erleichterung – es ist gelungen. Um 15Uhr15 Eintragung ins Gipfelbuch.
Aber danach muss ich wieder hinunter, um die beiden Haken zu bergen. Der letzte Stift entgleitet und verschwindet in der schattigen Tiefe. Um 15Uhr45 beginne ich den Abstieg über den Normalweg. Der Südwestgrat liegt noch im herrlichen Sonnenlicht – dieses tut gut, denn ich bin total durchgefroren und durchnässt vom stundenlangen Wühlen. Nach der ersten Abseilstrecke erklettere ich die tiefverschneiten Felsen nördlich der „Madonna“. Stand oberhalb des „Bandes“. Mühelos lässt sich das Kabel abziehen, sodann fädle ich es durch die rostigen Karabiner und werfe die Seile über den Überhang ins Leere hinaus. Kurze Zeit gleite ich ziemlich ruckartig, infolge des Gewichts auf dem Rücken tiefer. Es folgt nur mehr der Blockgrat und die steile Rinne. Um 16Uhr45 wird das Seil abgezogen und verstaut.
Jetzt beginnt unerwartet eine wahre Schinderei: Brusthoher Schnee! Es gilt einen Tunnel zu graben bis hinauf zur Anhöhe wo der Schützensteig in die Schicht abwärts führt. Ein letzter Blick hinüber: Der Zapfen liegt im letzten Licht, richtig alpin schaut er aus. Von mir kann man das allerdings nicht behaupten – die Hose ist total zerfetzt, das rechte Röhrl bis zur Hüfte aufgerissen. Hoffentlich sieht mich keiner in diesem Aufzug. Gegen 17Uhr30 bin ich bei der Astenaualm, sie liegt in einem unwirklichen Licht, die Bäume sind alle verschneit wie zu Weihnachten. Der weitere Abstieg zur Kanzelkehre wird durch 5 oder 6 kapitale Stürze aufgelockert.
Um 18Uhr30 bin ich dort eingetroffen. Durchnässt, durchgefroren, zerfetzt, aber glücklich.