Schiestl Reinhard
Erinnerungen an meinen Bruder
05.07.1957 – 16.07.1995
von Dr. Werner Schiestl
Es war ein sonnenheller Julitag zu Beginn der Sommerferien, als wir in fröhlicher Familienrunde den Geburtstag unseres Vaters und Reinhards feierten. Es sollte mein letztes Beisammensitzen mit Reinhard gewesen sein. Eine Woche später war Reinhards Lebensbahn beendet. Bleiben die Erinnerungen an unsere gemeinsamen Kindheitserlebnisse, die Berg- und Kletterfahrten……
Unsere Eltern betrieben selbst keinen Sport, daher mussten wir Kinder uns die damals üblichen Sportarten selbst beibringen. Dabei fiel uns Reinhards außergewöhnliches Bewegungstalent auf. Dies zeigte sich zunächst beim Schifahren, wo Reinhard uns, obwohl sechs Jahre jünger, schitechnisch bald überholt hatte. Aus diesem Grund war Reinhard auch bei allen Fuß- und Handballspielen ein begehrter Mitspieler.
Die Liebe zu den Bergen und zur Natur wurde uns Kindern von den Eltern bei vielen sonntäglichen Wanderungen in der Umgebung Innsbrucks vermittelt. Diese Wanderungen bewegten sich allerdings in leichtem alpinem Gelände, wo zur Fortbewegung die Füße ausreichten und selten war ein Berggipfel das Ziel. Sehnsüchtig schauten wir Kinder auf die Grate und Zinnen hinauf, wenn unser Ausflug wieder einmal auf einer Alm endete.
Irgendwann, mit etwa 14 bis 15 Jahren war es dann so weit, dass unsere Eltern den jugendlichen Tatendrang und unsere Abenteuerlust nicht mehr bremsen konnten. Wir, mein Bruder Willi und ich, hatten uns das Brandjoch und heimlich als Draufgabe die Frau Hitt als Tourenziel gesetzt. Unsere Eltern müssen schon ein gottseliges Vertrauen gehabt haben (oder war es eher Ahnungslosigkeit?), als sie uns zu dieser Bergtour ziehen ließen, nicht ohne uns den neunjährigen Reinhard als Beigabe anzuvertrauen! Das Brandjoch über den Ostgrat war endlich das, was wir uns schon lange erträumt hatten, der Blick vom Gipfel ein unvergessliches Erlebnis.
Der Tag war noch lang und voll Tatendrang stürzten wir uns auf unser zweites Ziel – die Frau Hitt. Nach eingehender Erkundung, Alpinführer zum Nachlesen kannten wir noch nicht, hatten wir die schwächste Stelle dieses Felsturmes ausfindig gemacht und waren bis zur sogenannten Schulter aufgestiegen. Dort sperrte uns ein kurzes, glattgescheuertes Wandl den Weiterweg zum nahen Gipfel. Wir älteren Brüder zögerten und trauten uns nicht ohne irgendwelche Sicherung hinauf, da wir den Abstieg fürchteten. Daher überredeten wir Reinhard, das Wandl zu versuchen – hinunter würden wir ihn schon notfalls mit den Händen auffangen. Reinhard ließ sich das nicht zweimal sagen, bewältigte die Stelle schneller als gedacht und bald darauf ertönte sein Triumphgeschrei vom Gipfel. Für den Abstieg benötigte er Gott sei Dank unsere Auffanghilfe nicht.
Eine weitere Schilderung aus unseren gemeinsamen Kletteranfängen möchte ich dem Leser nicht vorenthalten, wenn sie auch, wie die vorangegangene, das Prädikat verdient: „Zur Nachahmung nicht zu empfehlen“.
Es dürfte im darauf folgenden Jahr gewesen sein, ein wunderschöner, klarer Herbsttag, als wir mit unseren Eltern einen Ausflug auf den Achselkopf, eine bewaldete Kuppe im Bereich der Nordkette, unternahmen. Am frühen Nachmittag hatten wir das Ziel erreicht, das Brandjoch sah zum Greifen nahe aus und der Weg dort hinauf so verlockend. Ich überredete meine Eltern, mich mit Reinhard ziehen zu lassen. Mit dem Versprechen, bei Schwierigkeiten sofort umzukehren und ja um 5 Uhr wieder zurück zu sein, stürmten wir los. Die ersten Schrofen waren harmlos, dafür die nachfolgende Kletterstelle, ein ca. 15 Meter hoher Aufschwung umso schwerer, zu schwer um ihn ohne jegliche Sicherung zu erklettern. Daher wich ich ostseitig aus, dort schien das Gelände leichter. Was wir nicht bedacht hatten, war der dort liegende Schnee und die Vereisung, die das Gelände viel schwieriger machten, als vermutet. Bald steckten wir in ziemlichen Schwierigkeiten, zu spät zum Umkehren. Mit Mühe gelangten wir wieder auf den Grat und mit bangem Herzen ob der noch folgenden, möglicherweise für uns unüberwindlichen Schwierigkeiten, kletterten wir weiter. Endlich waren wir aus der Kletterei entlassen und dem Gipfel nahe.
Den Weg über den Ostgrat und zum Achselkopf bewältigten wir im Laufschritt. Von den Eltern keine Spur, wir stürmten weiter Richtung Hungerburg und konnten von dort aus mittels Telefonanruf unsere besorgten Eltern gerade noch von der Verständigung der Bergrettung abhalten.
Nach diesem aufregenden und für die Eltern nervenaufreibenden Einstieg in die Felskletterei, drängten sie uns zu einer soliden Vermittlung bergsteigerischer Grundkenntnisse bei einem der Innsbrucker Bergsteigervereine. So wurde die christlich alpine Gemeinschaft Berglegion für Reinhard und mich die erste Anlaufstelle, in der wir die Knotentechnik und die Handhabung des Bergseiles vermittelt bekamen.
In dieser Zeit begannen wir den Höttinger Steinbruch ausgiebig zu frequentieren. Anfangs als Neulinge belächelt, wurden wir mit steigender Kenntnis bald ernst genommen und der Beginn für zahlreiche Kletterkontakte und zum Teil bis heute fortdauernde Kletterfreundschaften gelegt. Reinhard mauserte sich zum Quergangskletterspezialisten und rief bei manchem Kletterfreak baffes Erstaunen hervor, wenn er in ca. 5 Meter Höhe den sehr schwierigen Quergang mehrmals hintereinander hin- und herflitzte.
In diese Zeit fielen auch Reinhards erste Kontakte zur Innsbrucker Jungmannschaft des ÖAV. Es folgte eine Zeit mit herrlichen Bergerlebnissen mit den Kameraden aus der Innsbrucker Jungmannschaft, der Berglegion sowie Kletterfreunden vom Höttinger Steinbruch, wie Michael Staudinger und Hanspeter Heidegger. Dem damals erst 15-jährigen Reinhard gelangen eine Reihe Aufsehen erregender Felsfahrten, wie die sechste Begehung des Westrisses in der Martinswand, die fünfzehnte Begehung der Fiedler-Flunger, sowie als Erstbegehungen die Nadelsockel-Westwand (Zik-Zak-Weg) und die NO-Verschneidung der Kleinen Ochsenwand (Kalkkögel).
Auf die Begehung der Fiedler-Flunger verdient näher eingegangen zu werden.
Reinhard wusste aus Insiderkreisen von einem ausgebrochenen Haken in der Schlüsselstelle der Dachseillänge und dass nachfolgende Begehungsversuche daran gescheitert waren. Der damals etwa 1,50 m große Reinhard bog sich daher zur Armverlängerung für die Begehung eine Drahtschlinge zurecht, um damit seine Fiffi in den nachfolgenden Haken zu bringen. Bei der Begehung wurde dieses Hilfsmittel dann allerdings doch nicht benötigt.
Für das Sommerlager der Berglegion bei der Siegerlandhütte (westl. Stubaier) war unser Lagerkurat durch Unfall verhindert. Kurzfristig sprang Dr. Reinhold Stecher, der spätere Bischof in Innsbruck, zur Feier des Sonntagsgottesdienstes ein. Als Dank dafür wurde er von Reinhard auf die Sonklarspitze geführt. Dr. Stecher war von der Tour und der umsichtigen Führung durch Reinhard so begeistert, dass er ihm, wieder im Lager, spontan seine Stirnlampe schenkte. Auch Reinhard muss von der gewinnenden Persönlichkeit unseres späteren Bischofs tief beeindruckt gewesen sein, wie ich aus Gesprächen mit ihm erfahren konnte.
Reinhard war eine introvertierte Persönlichkeit und machte selbst von seinen großartigsten Bergtouren nie viel Aufheben. Seine Gedanken und seine Gefühle traute er lieber dem geschriebenen Wort an. Dabei hat er zu einer Dichtheit und Meisterschaft der Handlungsschilderung gefunden, wie sie in der Bergliteratur selten ist. Seine Schilderungen von der Begehung des Walkerpfeilers sowie der „Don Quixote“ durch die Südwand der Marmolada d´Ombretta sind von beklemmender Eindringlichkeit. Kein Wunder, dass auch seine Tourenbuchaufzeichnungen nicht zu einer tabellarischen Tourenlistensammlung verkümmert sind, sondern durch Schilderungen, Gedichte, Gedankensplitter und Zeichnungen aufgelockert wurden.
Dass bei Reinhard auch der Humor nicht zu kurz kam, soll seine Schilderung von einer Bergfahrt in die Brenta aufzeigen:
„Schon lange war es ausgemacht. Unser Partner war Herbert Madl. Wir wollten uns am Abend des 16.8. auf der Tucketthütte treffen. Er fuhr mit der Bahn, wir mit dem Motorrad, gerade neue Kolben im Zylinder, also Höchstgeschwindigkeit 60 km/h. Hinter dem Brenner Regen, Kälte…. „I drah um, da regnet´s eh überall“! Nicht zu verkennen, die brüderliche Stimme: „Wennst moansch brrrr, da Kolleg wird si freun. I bins nit gwesn“! Erfolg: Unsicher werden von Werner. „Hmm“! Wir fragen gerade vom Süden kommende Leute nach dem Wetter dort. Es lautet: Schönwetter. Schönwetter?! Nichts wie hin, durch die Wasserfluten, dass es spritzt.
Von Brixen Schönwetterzone bis Bozen. Hui, kennst du die schmutziggraue Himmelstönung, aufgehellt durch gezackte Lichtblitze? Wir fuhren durch eine Wasserwand und klatschnass weiter durch Trient nach Madonna di Campiglio. Auf der hohen Passstraße froren wir zu Eiszapfen. Etwa dreißig km vor Madonna di Campiglio Motoraussetzer, Zündkerzen-verschmutzung. Bis unsere vereisten Gehirne das erfassten, hatten wir schon drei km geschoben. Endlich wieder freie Fahrt, 20km weit, dann Kolbenreiber. Aufgeregtes Geschnatter von Werner, eine Stunde frieren, dann konnten wir doch noch weiterfahren.
Dämmerung in Madonna di Campiglio, letzte Bergfahrt der Seilbahn auf den Monte Spinale um 18 Uhr. Wir hatten es bereits zehn Minuten danach. Herumirren im Ort nach der Straße ins Valle Sinella. Im Dunkeln finden wir doch noch dorthin. In eineinhalb Stunden soll man auf die Tucketthütte gelangen, doch welcher Weg ist der unsere?
Wir befragten Leute, keine befriedigende Auskunft. Also gingen wir auf gut Glück drauf los. Eine viertel Stunde, dann zweifelte mein Bruder, ich ging weiter, er verzweifelt hinter mir drein, eine Stunde, zwei Stunden. „ Da, ein Licht, die Hütte!“ Welch ein Jubel! Eine halbe Stunde später erreichten wir die Seilbahnstation Monte Spinale.
Erste Frage an die italienische Besatzung des Hauses: „Quanto ora – Rifugio Tuckett?“ Weit aufgerissene Augen, entsetztes Schweigen. Was hatten wir falsch gemacht? Werner deutete auf sein Handgelenk, dann in die Ferne. Noch mehr Staunen. „Geh Alte schau mi net so deppat on!“ Dann sprudelt es hervor, ganz zaghaft: „Vier bis fünf Stunden!“ Sie macht herrliche Mimik dazu und Zeichensprache, die uns zum Übernachten auffordert. Ein Lächeln von uns, wir tippeln weiter, zwei Stunden lang bergauf, bergab.
Schließlich biwakieren wir, hungrig, nass, ausgefroren. Werner hat trockene Reserve-wäsche, er knurrt ob meines Starrsinns, aber vor allem, weil er wegen meines Zähneklapperns keinen Schlaf findet. Um fünf Uhr früh brechen wir zur Tucketthütte auf, wo unser Kollege n i c h t vorhanden ist. „Vielleicht ist er schon alleine den Bocchette-Weg gegangen?“
Also gingen wir, nachdem wir zwei Stunden gewartet hatten, den Bocchette-Weg. Wunderbar, herrlich, und dieser Tiefblick! Von nun an begleitete uns nur mehr der Geist von unserem Kameraden, wir hatten ihn nicht gefunden.
Um drei Uhr nachmittags waren wir zurück im Tal, es ging heimwärts, bis knapp nach Bozen. Vor Bozen eine neuerliche Dusche in einem infernalischen Gewitter. Dann merkte Werner, dass er nur mehr mit dem Benzin des Reservetanks fuhr. Pech für uns! Wenn es dunkelt hat keine Tankstelle mehr offen. Gelobtes Land Italien! Es sorgte für ein Biwak vor einer geschlossenen Tankstelle.
Morgens vollgetankt, ging es weiter Richtung Brenner. Großeinkauf für ein Festgelage in der Heimat. Bis Gries am Brenner dauerte der Regen, dann hörte er für uns auf. Die folgende Kraftprobe mit einem Auto endete für uns im Krankenhaus. Allerdings nur arge Prellungen und einige kleine Schürfwunden. – Vorbild einer Tour? – Nein danke!“
Nach Reinhards Klettererfolgen in der näheren Umgebung Innsbrucks wurde auch die „Alpine Gesellschaft Gipfelstürmer“ (HG des ÖAV Innsbruck) auf ihn aufmerksam und ab dem Jahr 1974 finden sich die ersten Toureneintragungen mit Kletterkameraden aus diesem Verein in seinem Tourenbuch.
In diesem Jahr öffnete sich für Reinhard das Tor in die weite Welt. Mit Thomas Abermann, Dr. Bernhard Willi, Oswald Gassler, Leopold Jeller, Leo Baumgartner und Franz Rienzer erkundete er die Bergwelt Süd-Grönlands. Vom Basislager am Tassermiutfjord aus gelangen ihnen acht Erstbegehungen bzw. Erstbesteigungen sowie eine Drittbesteigung. Mit unvergesslichen Erlebnissen und tief beeindruckt von der Natürlichkeit und Freundlichkeit der Bewohner dieses Landes kehrte er zurück. Mögen seine eigenen Aufzeichnungen dem Leser einen Eindruck davon geben:
„Ich gehe entlang des sandigen Ufers eines Flusses und bewundere den Sonnenuntergang, wie die letzten Strahlen der Sonne ins Dunkel tasten, um der Schwärze der Nacht zu weichen. Dann gehe ich über das nasse Sumpfgras und lausche den Schreien einer Möwe. Schließlich bleibe ich müde unter einer Zwergbirke stehen und bin überwältigt, als das Nordlicht hinter den Bergkuppen hervorbricht und mit zauberhaftem Flackern die Nacht farbig erhellt. Dann fahre ich über die schwarze Oberfläche des Fjordes hinein in einen Nebelschleier, der wie eine Wand in das Meer ragt und uns verschluckt. Das Geschenk eines Tages – das reichste meines bisherigen Lebens, vielleicht das Abschiedsgeschenk dieses Landes – es war der letzte Tag. Danach spiele ich mit einer Schar Eskimokinder, sitze zwischen diesen immer lachenden Kindern – jetzt bin ich glücklich…“
1976 ist Reinhard im Rahmen eines vom Alpenverein organisierten Bergsteigeraustausches in den Kaukasus (Besengigebirge) eingeladen. Dort gelingt ihm solo eine Zweitbegehung der Direttissima auf den Ukiu, Wandhöhe 1000 m. Die Begehungszeit von drei Stunden für diese Tour löst im Lager ungläubiges Erstaunen und Bewunderung hervor, benötigten doch die Erstbegeher zwei Tage dafür.
In den folgenden Jahren ist Reinhard mit seinen Clubkameraden von der HG Gipfelstürmer in den Ost- und Westalpen unterwegs. Sein bevorzugtes Klettergebiet sollten jedoch die Dolomiten und hier besonders die Marmolada werden, wo ihm mit Luggi Rieser und Heinz Mariacher eine Reihe spektakulärer Erstbegehungen gelangen. Wohl diese Erstbegehungen waren es, die ihm eine Einladung zur Teilnahme an Messners Annapurna-Expedition ©85 eintrugen.
Als Eldorado für Extremkletterer sind die Granitwände im Yosemite-Nationalpark bekannt. Hier wurde schon in Schwierigkeiten weit jenseits des sechsten Grades geklettert, als bei uns die Diskussion über eine nach oben hin offene Schwierigkeitsskala noch nicht einmal begonnen hatte. ©79 sowie ©83 zog es auch Reinhard dorthin und als Höhepunkt gelang ihm die Begehung der „Astroman“ am Washington Column, mit der Einstufung 5.11+ die damals schwerste Valley-Tour. Zum Vergleich stufte er seine, meines Wissens schwerste Erstbegehung, die „Mephisto“ am Heiligkreuzkofel, mit 5.11 ein.
In den letzten Jahren verlegte Reinhard sein Kletterinteresse von den hochalpinen Touren in die Sportkletterbewegung. Im Ötztal richtete er mit viel persönlichem Einsatz mehrere Klettergärten ein, wie die heute viel besuchten Klettergärten von Oberried und Tumpen.
Der Förderung und Ausbildung des Sportkletternachwuchses galt seine größte Anstrengung. Unter seiner umsichtigen und exzellenten Betreuung kletterten „seine“ Kinder aus dem Ötztal in die vordersten Ränge bei Weltcupwettbewerben. Seine größte Freude war, seine Kletterbegeisterung an die Jugend weitergeben zu können. Zu sehen, wie sie in ihrer Leistung wuchsen, das machte ihn glücklich.
Als er ein Kind, das von einem Kletterwettbewerb kam, vom Bahnhof Ötztal abholen wollte, setzte ein allzu eiliger Autofahrer seinem Leben ein Ende.