85 Jahre Gipfelstürmer 1911-1996

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Vorwort
von Heli Ohnmacht

Liebe Freunde unseres Vereines, liebe “Gipfelstürmer”!

Das Titelbild dieser Chronik soll Leitfaden für Gedanken anläßlich unseres 85. Stiftungsfestes sein. Zwei Kletterer, einer davon aus scheinbar längst vergangenen Zeiten, sichernd am Stand, der andere aus der Gegenwart, frei an einem Dach kletternd. Der eine, Luis, in der Kluft von damals, der andere, Andi, im Dress der Freeclimber, färbig, funktionell, zeitgerecht.

Das Seil verbindet diese zwei Männer. Luis, heute Ehrenvorstand, 90 Jahre und Andi, einen unserer “Jungen”. Es verbindet aber auch Gesinnungen, jene vergangener Zeiten und jene, welche sich daraus entwickelt haben. Es stellt aber auch die Entwicklung der Kletterei in symbolischer Art und Weise bis zur heutigen Zeit dar.

Heli Ohnmacht

Wir Älteren erleben diese neue Zeit mit den Jungen, lauschen, wenn sie erzählen, heimgekehrt von Patagonien, Alaska, Yosemite, dem Himalaya oder den Sportkletterwänden, wenn sie von den Routen in den höchsten Schwierigkeitsgraden und mit den klingenden Namen schwärmen, nicht nach den Erstbegehern benannt wie früher, sondern losgelöst vom eigenen Ich, den Träumen gleich.

Aber gibt es bei uns eigentlich Ältere und Jüngere, sind wir nicht manchmal beides zugleich, manchmal das eine, manchmal das andere. Wenn wir einen Freund verloren, wurden da nicht auch die Jüngeren zum Älteren, vielleicht einen Augenblick lang. Und werden wir Älteren nicht immens jung, wenn wir die Abenteuer der Jungen miterleben dürfen. Diese großartigen Abenteuer bis zum 10. Grad, in klirrenden Wasserfällen, in kalten Biwaknächten unter den Sternen Feuerlands, hoch über den Gletschern Alaskas oder das Abenteuer der extremen Wettbewerbe in den Alpen.

Dies zu erleben über Jahre, über Jahrzehnte, schweißt zusammen, schleift Kanten ab und formt, lehrt Toleranz und Verständnis und macht Freunde daraus, meist weit über den Jordan hinweg. Es bringt Erinnerungen an erlebte Träume und an Menschen, an Freunde, die nicht mehr bei uns sind, aber in uns ihren Platz haben.

So bleibt mir zu wünschen, daß es so bleiben möge, daß wir alle neuen Träume und neue Ziele finden, daß sie verwirklicht werden und daß wir alle so wie bisher daran teilnehmen dürfen.

Das Tal der Träume
von Andreas Orgler

Die “Ruth Gorge” ist mehr als nur eines von vielen Gletschertälern. Seit Bradford Washburn den Eisstrom 1993 vermessen hat, steht fest: Es ist der tiefste Canyon des nordamerikanischen Kontinents. Vom Eisspiegel weg nach unten 900 Meter nichts als Eis, nach oben bis zu 1600 Meter steiler Granit Wegen des meist schlechten Wetters sieht man diese gigantischen Wände oft nicht. Aber allein schon das Wissen um ihre Existenz fasziniert.

Die Zelte waren gut aufgestellt, die Eingänge nach Süden, um dem Gletscherwind zu entgehen und eng beieinander, als für Tommy, Raimund und mich die erste Entscheidung anstand. Wer wohnt im Zweimannzelt? Wer spielt den Eremiten?

Tommy Bonapace

Ein Typ wie Tommy Bonapace wird in solchen Fällen niemals große Erklärungen abgeben. Er, der bis zum heutigen Tag alle sozialen Fallen, die süßen Gifte der Gesellschaft erfolgreich gemieden hat begann selbstverständlich und ohne Hast seine persönliche Habe ins Zweimannzelt zu packen. Angepassten Zeitgenossen war sein freier Lebensstil ein Dorn im Auge, ich hingegen empfand sein Ego stets als erfrischende Abwechslung zum üblichen Einheitsbrei gesellschaftlicher Regeln. Mit Ruhe, Grazie und Lässigkeit hatte Tommy knifflige Situationen überstanden. Am Berg genauso wie in den engen und tiefen Tälern des menschlichen Miteinander. Es schien, als hätte er sein ganzes Streben auf Klettern, Essen, Trinken und gute Laune ausgerichtet. Aber während viele Menschen sich auf ihrer Suche nach Wohlbefinden selbst ruinieren, war er stets gleichgültig genug, um Zufriedenheit zu erlangen. Sicher war es oft hart gewesen, die Freiheit zu verteidigen, aber in aller Gemütsruhe die volle Befriedigung seiner Wünsche zu genießen, hatte eine Qualität, für die zu kämpfen es sich lohnte. In einem Anflug von Opferbereitschaft nahm ich die Isomatte aus dem Rucksack und warf sie in Raimunds Einmannzelt. “In ein paar Tagen können wir ja wechseln.” Rundum war Erleichterung zu spüren.

Der nächste Morgen in der “Ruth Gorge” – die Stunde des Friedens. Das Gletschertal schwebte zeitlos im silbrigen Licht Keine Finsternis, keine Nacht, keine Sonne, kein Tag, keine Flieger, kein Fortschritt, kein Rückschritt, keine Arbeit – nur Regen. Seit Stunden der gleichmäßige Takt der Tropfen. Es bedurfte keines Blicks ins Freie. Der Aufstieg war abgeblasen, ohne darüber zu beraten. Als ich das nächste Mal aus tiefem Schlaf erwachte, vermisste ich das Trommeln des Regens. Der leicht geöffnete Zelteingang bot einen wundervollen Blick Der Gletscher war in tiefes Dunkelblau getaucht, seitlich wuchsen nasse Felswände im rechten Winkel aus dem Eis. Farbe konnte ich ihnen keine zuordnen. Zahlreiche Bäche schossen die Mauern herunter und eine dampfende Nebelmasse brodelte in diesem Gefäß der Natur. Schwarze Wolkenbänke zerrissen das grelle Weiß. Wenige Kilometer entfernt schienen der Gletscher und der Wasserhimmel zusammenzuwachsen. Ein Horizont von beängstigender Nähe raubte fast die Orientierung. Für kurze Momente blitzten verschneite Steilwände auf. Einmal ein Gipfel. Ein Traum. Eine breite schwarze Wandflucht hatte die Flügel wie ein Adler ausgebreitet Und über all dem ein makelloses Dreieck. Die Riffelung des Steileises und alle anderen Linien liefen in diesem Punkt zusammen. Ein Bild für zwei Sekunden nur, dann hatte der Sturm dem Märchenberg seine Wolken wie eine Tarnkappe übergeworfen. Dort oben wollte ich einmal stehen. “It´s a beautiful mountain – just to look at” hatte Mugs einmal über diese magische Berggestalt orakelt Für ihn war es auch so gekommen. Zwei Mal hatte ich diese magischen Wandfluchten schon versucht, das letzte Mal 1991 gemeinsam mit Klaus. Nach zwei Seillängen härtester Technokletterei setzte unserem so viel versprechenden Versuch das schlechte Wetter und die angespannten Nerven ein vorzeitiges Ende. Wir wollten unbedingt unserem Alpinstil treu bleiben und zogen folgenden Schluss: Freiklettern ist ein artistischer, balletartiger Tanz, der Partner ist der Fels. Technisch klettern ist mehr romantisch, es ist Erlebnis, nur für den Kopf Es ist die Möglichkeit, einen für diese Passage unfähigen Körper in eine irre Situation zu bringen. Mit dieser Erkenntnis zogen wir Tage später zum 800 Meter hohen “Anemonenpfeiler”, wo uns eine schöne Erstbegehung in fast vollkommener Freikletterei gelang.

Eye Tooth Westpfeiler

1994 in der “Gorge”: Der Himmel war bedeckt, nur selten brach sich die Sonne dürre Bahn. Trotzdem stiegen wir ein letztes Mal zum Fuß des Eye Tooth auf. Wir konnten nichts mehr verlieren. Der Sugar Tooth war ein schöner Erfolg gewesen. In zweieinhalb Tagen gelang uns über seine glatte Westwand die Bergerstbesteigung. Unsere Kletterzeit ging zu Ende. Vor sechs Jahren hatten Tommy und ich aus der “Winebottle” sechs Tage lang diesen makellosen Westpfeiler des Eye Tooth im Visier. Doch damals lag er in Mugsens Revier. Es war fast ein Zwang, der uns an die Riesensäule trieb. Um 5 Uhr Nachmittags begannen wir über die unteren, flachen Plattenschüsse hinaufzustürmen. Wir hatten alles auf ein Minimum reduziert; Tempo war angesagt. Ein Rucksack mit Biwakmaterial und Essen, Kletterausrüstung wie für eine Alpentour und Klamotten wie für den Mont Blanc. Fünfzehn Seillängen lagen unter uns, als Tommy noch die erste Seillänge am Pfeilerhals vorbereitete. Mutig zog er über feuchten, steilen Granit mit spärlichen Sicherungsmöglichkeiten. Wolkenfetzen flogen um den Pfeiler und im Westen baute sich eine breite Schlechtwetterfront auf.

Dunkler Trübsinn lastete auf uns und unserem Biwak. Das unsichere Wetter und die Diskussion zwischen Tommy und mir über den Weiterweg hingen wie ein Damoklesschwert über uns. Alle unsere guten Vorsätze in Bezug auf Liniendiskussionen schienen vergessen. In den wenigen Stunden der Ruhe hing jeder stier seinen Gedanken nach und zählte die Aufschläge der Tropfen auf der Biwakhülle. Nur Tommy verließ gegen Morgen den Biwakplatz und kletterte ungesichert zu eigenen Informationszwecken um die Ecke. Nie wurde darüber gesprochen, aber es gab auch keine Diskussionen über die Routenwahl mehr. Ein Mittelweg aus seinen und meinen Vorstellungen entwickelte sich zum leichtest gangbaren Weg. Angesichts des immer schlechter werdenden Wetters die sinnvollste Alternative. Zumal sie reine Freikletterei bot. Nach 23 Seillängen standen wir am Pfeilergipfel. Vollkommen im Wolkenmeer geborgen. 18 Stunden waren wir unterwegs gewesen und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Unterer siebter Grad. Puritanischer Stil.

Was folgte, war die Nacht des Grauens. Noch am Ausstieg begann es in großen Flocken zu schneien. Mit eisiger Faust drosch der Wettersturz auf uns armselige Geschöpfe ein. Die Nacht hätten wir mit unserer Ausrüstung in der Wand nicht überstanden. Seillängenweise arbeiteten wir uns im eiskalten Schneesturm hinunter. Wieder spielten wir bestens zusammen. Die Zänkereien und Wortgefechte der vergangenen Wochen waren unwichtig geworden. Mit jeder Seillänge, die wir dem Wandfuß näher kamen, stieg die Laune im gleichen Maß, mit dem die Erschöpfung zunahm. Drei Tage später bot sich die erste Möglichkeit uns triefend nasse Schwämme samt unserem Sondermüll aufzulesen. Bei Sonnenschein flogen wir an unseren Wänden vorbei, mit der Gewissheit einer baldigen warmen Dusche. Meine Augen schweiften durch das Meer von Wänden, bis sie an einem endlos hohen Pfeiler hängen blieben, dem Mt. Bradley-Südpfeiler. Ein aufflackerndes Feuer der Kletterleidenschaft machte mir bewusst: dafür komme ich wieder.

Ein Jahr später stehe ich gemeinsam mit Heli und Arthur unter dem Mt. Bradley-Südpfeiler: Er ist bezaubernd schön, glatt, rund und glänzend. Nicht nur diese Eigenschaften lassen eine gewisse Parallele zu einer Perle erkennen. So wie der Werdegang und der Aufenthalt einer Perle ist auch der Bradley-Südpfeiler für den Neuankömmling nicht auszumachen, geschweige denn seine Entstehung nachzuvollziehen. Und man muss große Hindernisse überwinden, um an ihn heranzukommen. Aber wenn man ihn gefunden hat, dann strahlt er ebenfalls Vollkommenheit aus. Der Name für dieses Ziel war somit gefunden und inspirierte. Die glatten Wände der Muschel lagen hinter uns. Dieses Hindernis der Schlucht galt es nun zu knacken, um an die Perle der Tour, den Pfeiler, zu gelangen. Und immer wieder ist es bei solchen Stellen das Selbe: zuerst die Wertigkeit hinterfragen, ob ein Versuch sich lohnt; dann die Einsamkeit der inneren Emigration, aus deren Finsternis nur die schnelle Flucht durch den Tunnel wieder ans Licht führt; und ganz zum Schluss der Genuß des gewonnenen Paradieses, ohne einen Blick in die schaurige Vergangenheit zu riskieren.

Erinnerungen an die “Weinflasche” wurden wach und ich begann die Situation zu vergleichen. Um wie viel härter war ein “Big Wall” zu zweit gewesen. Wenn der Partner über einem im Nebel verschwunden ist, das Seil nur langsam weiterläuft, der Mund vor Trockenheit schmerzt und man im Gurt 1000 Meter über dem Gletscher hängt, dann ist der Vorteil des Gesprächspartners am Stand wahrer Luxus. Niemals bin ich in “Pearl” so tief in mich gesunken wie damals in der “Bottle”. Die vom Quarzsand zerrissenen Finger schmerzten im Gespräch viel weniger, Angst und Einsamkeit hatten keine Chance in einem Dreierteam. Nur Zweifel kamen auf, wenn wir über die Möglichkeiten eines Rückzuges nachdachten. Der Weg zurück über die Schlucht war nur eine Fiktion und die Überhänge im untersten Teil des Südpfeilers waren auch nicht das, wonach man sich sehnt. Nach 31 Seillängen stehen wir am Ausstieg. Viele “Big Walls” hatte ich bis zu diesem Tag durchstiegen, auch in der “Ruth Gorge” schon. Jedes Mal begannen wir jedoch nach kurzer Gipfelrast eilig mit dem Abstieg. Zu stark war die Anziehungskraft des Basislagers gewesen. Doch dieses Mal war anders. Ich kannte den Abstieg von der Erstbesteigung des Berges gemeinsam mit Sepp Jöchler aus dem 87er-Jahr und wusste, dass bei Nebel fast nicht hinunter zu finden sein würde. Zudem waren wir nach einem Zwanzigstundentag ermattet und einsetzender Regen versprach nichts Gutes. Die letzte Rettungsinsel bot somit dieser große Block mit seinem idealen Biwakplatz, nur einige Meter unter dem verwächteten, lawinengefährlichen Schneegrat. Es war ein entspanntes Ruhen mit dem Wissen, den Pfeiler geschafft zu haben. Es war einer jener seltenen, unvergesslichen Momente, in denen sich Traum und Wirklichkeit für kurze Zeit treffen.

Tage später hängen wir in der Wisdomtooth-Südwand.: Ich war süchtig geworden. Gameboyspiel ist fast wie Klettern, nur hat man beim Computer viele Leben zur Verfügung, sein Ziel zu erreichen. Auf vergangenen Expeditionen hatte ich viel zum Lesen, den Walkman oder die Spielkarten. Der Schlechtwetterzeitvertreib hieß diesmal “Kirbys Dreamland” von Nintendo. Heli hatte diese Droge in Form eines Kinderspielzeugs in unsere Dreiergemeinschaft eingebracht und prompt versuchte ich tagelang, über “Green Greens” ins “Castle LOLOLO” zu gelangen War mir dies mit Aufbringung meiner letzten Kräfte noch vergönnt, so ging es fast schon ans Äußerste, von “Float Island” auf eine der “Bubbly Clouds” zu springen. Nur über sie war der höchste Grad, “Mt. DeDeDe”, zu erreichen Ihn allerdings zu bewältigen, war schier unmöglich. Vor seiner Bezwingung wurde das Wetter jedoch so schön, dass es sich nicht mehr vermeiden ließ, an einer Wand der “Ruth Gorge” klettern zu gehen. Es war ein phantastischer Freiklettertag mit Traumlängen bis nach Mitternacht Aber nun war’s genug und ich wollte nur noch eins: zurück ins Zelt und “Mt. DeDeDe” versuchen.

Werwolf und Hüttenturm

Und noch ein drittes Mal starten wir 1995 zu einer Erstbegehung, diesmal am Hüttenturm. Es war ein wundervoller Klettertag mit schweren Seillängen und einer tollen Leistung Helis in der Schlüssellänge. Es war Arthurs dritte Erstbegehung in der “Ruth Gorge”, Helis fünfte und meine elfte. Seit 1987 träumte ich jeden Herbst zu Hause vom Wiederkommen im nächsten Jahr und realisierte dies auch mit immer neuen Ideen in den Jahren 1988, 90, 91, 94 und schließlich dieses Mal. Immer wieder konnte ich meine Freunde für neu entdeckte Erstbegehungsmöglichkeiten begeistern, ja sogar Geli konnte ich überzeugen, dass der beste Platz für eine Hochzeitsreise der Mt. McKinley und die “Ruth Gorge” sind. Seit meiner Hochzeitsreise waren drei Jahre vergangen. Erinnerungen an eine gemeinsame Viertage-Besteigung des Mt. McKinley kommen mir genauso in den Sinn wie der mühsame, endlose Fußmarsch den Ruthgletscher hinaus, dem Aldercreek entlang, durch dichtesten Busch bis zu den Sümpfen des Tokositna-Rivers. Eine Stunde Flug stand 8 Tagen des Gehens und Bootfahrens entgegen. Geli kam mir in den Sinn. Was für ein wirres Ziel hatte mein Hirn so betäubt? Für Wochen hatte ich freiwillig die Dreisamkeit mit ihr und Christoph gegen eine Männerrunde getauscht. Auch wenn ich spürte, dass ich wiederkommen werde; bei uns drei herrschte Einigkeit: Es war phantastisch, war erfolgreich, perfekte Freundschaft; jedoch für diesmal war’s genug.

Cara de Hielo
Gesicht des Eises!

von Tommy Bonapace

Vor einigen Tagen waren wir beim Eisklettern im Pinnistal. Ein stetiger Föhnsturm streifte über die Lärchen und Fichten hinweg, die Stille wurde von einem schwingenden Rauschen unterbrochen. Es klang nach Musik eines fernen Landes, die mich überall hin bis in den letzten Winkel verfolgte. Mit einem energischen Ruck fuhr mir unsanft ein Windstoß direkt ins Gesicht und riss mir die Mütze vom Kopf. Ernüchternd konnte ich mich jetzt von seiner Herkunft überzeugen – er war in jener Einöde unserer Erde entsprungen, wo er als ständiger Begleiter die Einsamkeit verwies und als todbringende Naturgewalt gegen einen ankämpfte. Durch aufsteigende Luftmassen brauen sich diese Winde über dem Pazifik zusammen und jagen beinahe pausenlos über das “Land der Stürme” hinweg.

Im vergangenen Jahr brachte ich es zu meiner achten Patagonienreise. Viele Erlebnisse, Erfolge und Misserfolge – wenn man Letztere als solche bezeichnen will – haben mich geprägt und eigene Wege beschreiten lassen. Freundschaften zu meinen Seilpartnern wurden gefestigt, andere geschlossen, manche sind ins Wanken geraten. Zusammen mit den einheimischen Gauchos feierten wir wilde “Asados” (gebratenes Lamm), wie sie es dort nennen. Die ganze Nacht wurde gejodelt und gesungen, wie ausgehungerte Kannibalen stürzte man sich auf das Fleisch. Der Wein verschaffte einem die nötige Unterlage, um die schwer im Magen liegenden Fleischmassen verdauen zu können. Toni erwachte am folgenden Morgen im Hühnerstall, wo er vom aggressiven Gegacker vertrieben wurde. Lautlos schlich er sich aus dem verschlafenen Dorf (Chalten) ins Basislager zurück. Es liegt eingebettet in einem wildwüchsigen Buchenwald nahe einem riesigen Gletschersee, dem Torresee. Ähnlich einem Nest, wo man die nötige Ruhe und ein Holzfeuer findet und sich erneut den Mut verschafft um ins Ungewisse hinauf zu steigen. Es wird über die unmöglichsten Gegebenheiten diskutiert geblödelt oder stumm zusammengesessen und ins Lagerfeuer gestarrt. Man entwickelt eine eigene Art der Verständigung, die Wahrnehmung, Gestik und Sprache untereinander beruht auf einem gesunden Maß an Verrücktheit. Durch die oft wochenlang andauernden Schlechtwetterperioden muss man eine gewisse Gelassenheit erlangen, um in den Tag hinein zu leben.

Man ist sich seiner selbst ausgeliefert Die innere Verbundenheit zu diesem Land und ein magischer Schleier, der dort in den Bergen ruht, haben mich in ihren Bann gezogen. Plötzlich findet man sich wieder im “Garten der Götter”, wie wir diesen riesigen Talkessel zwischen Torre und Fitz bezeichnen, und wo wir unsere bergsteigerischen Ziele vor Augen sehen. Man wird umringt von bis zu 1500 Meter hohen Granitnadeln, sie bieten eine Fülle an Fels- und Mixedrouten. Die Cerro Torre-Kette im Westen erinnert mich an ewige Nässe und Kälte. Sie ist mit mächtigen Eispilzen bestückt und bildet ein konträres Bild zum Fitz Roy-Massiv im Osten, wo man wahre Genussklettereien in trockenem, warmen Fels antreffen kann. Die Morgensonne an der Ostwand des Torre in der “Egger”-Route nach einer fröstelnden Biwaknacht gegen die Abendsonne an der Westwand des Fitz Roy auszutauschen, wäre mir sicher nicht in den Sinn gekommen, hätte ich nicht diesen hausgroßen Gipfelpilz in triefender Nässe über mir hängen gesehen. Ein überhängendes Gebilde aus Eis und Schnee klebt an senkrechten Granitplatten, um den besorgten Blick des Kletterers auf sich zu heften. Somit sind die grundlegenden Charaktere, was das Klettern in diesem Talkessel betrifft, umschrieben und auf Grund dieser Erkenntnisse (um stabile Temperaturen bemüht) starteten wir im Spätherbst 1993 (April bis Juni) einen erneuten Angriff auf der “Egger”-Route. Meine Partner waren, wie bei allen vorangegangenen Versuchen, Gerold Dünser aus Feldkirch sowie Toni Ponholzer aus Kals. Als Zweierseilschaft glückten uns einige Erstbegehungen am Torre-Massiv. Es entstand die Idee, als starke Dreierseilschaft große Vorteile nützen zu können, ausdauernder und schneller zu klettern, als auch bei einem Unfall bessere Rückzugschancen zu haben. Wir entwickelten eine eigene Taktik, konstruierten ein Hängebiwak-Zelt in dem wir sitzend die Nächte in der Wand verbrachten. Der Grundgedanke war vor allem, eine Schlechtwetterperiode von mehreren Tagen darin absitzen zu können. In den ersten Aprilwochen waren wir hauptsächlich mit Vorbereitungsarbeiten beschäftigt- Wir gruben eine Schneehöhle nahe dem Einstieg, in der Ausrüstung sowie Lebensmittel deponiert wurden. Sie diente als vorgeschobene Behausung, um vor den spätherbstlichen Schneestürmen Schutz zu finden.

Nach einem vorangegangenen Versuch war es schließlich am 10. Mai, als wir mit genauest kalkulierten Lebensmittelrationen für 10 Tage erneut einstiegen. Es gab der Jahreszeit entsprechend viel Schnee und Eis. Mit nur 9-10 Stunden Tageslicht mussten wir uns begnügen. Im Lichtkegel der Stirnlampen wurde bis spät in die Nacht geklettert, das Hängezelt aufgebaut und gekocht Das bewältigen der vereisten Seillängen und der Transport der lebenswichtigen Ausrüstung bei Nachttemperaturen von -15 bis -20 Grad kostete Unmengen an Zeit Auf Grund dieser Bedingungen kamen wir nur sehr langsam höher, obwohl wir täglich 18-20 Stunden (die ersten 4 Tage) auf der Achse waren, ehe wir für wenige Stunden Schlaf nachholten. Am Ende des 2. Tages gelangten wir zum Pfeilerkopf am Einstieg zur “Mausefalle”. Eine Schneerampe leitet auf das “Col der Eroberung” (5 Seillängen), das wir am Ende des 3. Tages erreichten. Eine ernste Wetterverschlechterung machte sich durch stetigen Westwind mit leichtem Schneetreiben bemerkbar.

In dieser Nacht wurde unser Biwakzelt erstmals auf seine Sturmtauglichkeit getestet. Es erwies sich immer mehr als unbedingt erforderlicher Bestandteil, um die Nächte zu überstehen. Im Zelt war jedem seine Arbeit zugeteilt: Toni übernahm den Schneesack für die Wasseraufbereitung, Gerold die Lebensmittel (gefriergetrocknete Nahrung im Alubeutel, Müsliriegel, Biosorbin-Sondennahrung, usw.) und ich, zwischen den beiden sitzend, war für den Kocher verantwortlich. Am nächsten Tag glückte es uns, über das Col hinauszuklettern, ehe am späten Nachmittag das Wetter endgültig zusammenbrach. Wir wechselten von der Ost- auf die Westseite, vom “Lee” ins “Luv”, was für uns einen empfindlichen Temperatursturz mit sich brachte. Auch eine enorm hohe Luftfeuchte vom nahen Pazifik war durch den Weißschimmer der Gore-Kleidung unübersehbar. Wir befanden uns plötzlich in einer Welt von verschiedenst geformten Anraumgebilden, die im Laufe der Zeit zu gigantischen Eismatratzen und Pilzen heranwuchsen. Für uns begann an diesem Tag der Anfang vom Ende unseres Zieles, Im fixierten Hängezelt verbrachten wir die kommenden dreieinhalb Sturmtage und hofften vergebens auf eine Wetterbesserung. Nachdem der Proviant und auch der Schneesack zur Gänze aufgebraucht waren, stieg ich aus dem Zelt, um Nachschub aus den Rucksäcken zu holen. Dabei wurde uns die Ernsthaftigkeit unserer Lage erst richtig bewusst, da ich binnen weniger Minuten leichte Erfrierungen an den Fingerspitzen davontrug. Ein Rückzug war plötzlich unmöglich. Die Nässe und Kälte wurden unerträglich, die Stimmung war bedrückend, jedoch untereinander harmonierten wir gut. Toni beschränkte sich mit seinem Wortaustausch auf das Allernotwendigste wie “Hunger” und “Durst”, um uns zum Kochen anzuregen. Gerold und ich hingegen sorgten für genügend Gesprächsstoff, um die Gedanken zumindest an einen behaglicheren Ort zu versetzen. Toni als Zuhörer verfiel dabei häufig in schallende Lachorgien, denen wir uns freudig anschlossen. Von überschäumender Gedankenlosigkeit beflügelt, nahmen wir ganz augenblicklich auch die regelmäßig auf das Zeltdach zischenden Pulverschneelawinen hin.

In den Nachmittagsstunden des 8. Tages klarte es auf und erste Sonnenstrahlen bei anhaltendem Sturmwind liegen neue Hoffnung aufkommen. Nach einschlägigen Beratungen, was die weitere Wetterentwicklung und den Bestand der Lebensmittel betraf, entschlossen wir uns für einen Rückzug. Die einbrechende Dunkelheit zwang uns zu einem weiteren Biwak in 600 Metern Wandhöhe. Das Wetter verschlechterte sich wieder zusehends. Wir waren jedoch jetzt auf der geschützten Ostseite und empfanden keine große Kälte, so dass man sich mit den erstarrten Schlafsäcken einfach zudeckte. Die Lebensgeister erwachten aufs Neue. Man beschäftigte sich mit dem nahegerückten Wandfuß sowie einem langersehnten Lagerfeuer in der trockenen Hütte und einem waagrechten Schlafplatz. Auch Tonis Geist überraschte uns plötzlich durch seine unbändige Redseligkeit, zuweilen sich dröhnend der Wind über uns durch das Col zwängte. Am Morgen gab es erneut starken Schneesturm, die Flanken des Torre waren mit einem dicken Eispanzer überzogen, teilweise fegten die Pulverschneelawinen über uns hinweg. Auf Grund dessen war das Auffinden der Abseilstände trotz meiner genauen Kenntnisse fast aussichtslos. Das Wahrnehmen neuer Risse, um Haken zu platzieren, gestaltete sich zu einer Hetzjagd gegen ein Inferno.

Patagonien-Chronologie
von Tommy Bonapace

1992 bis 1995

1992 mit Partner Gerold Dünser. Zwischen Bifida Süd- und Nordgipfel zieht ein markantes Verschneidungssystem durch die Ostwand. Am 29. 1. erkletterten wir ca. 450 Meter dieser Linie, bis ein vereister, überhängender “Offwith-Riss” mangels Absicherungsausrüstung ein unüberwindbares Hindernis darstellte. Nach einer warmen Biwaknacht entschieden wir, nach rechts über ein Band auszuweichen, wo wir sowohl die “Ferrari”- als auch die Erstbegeherroute von P. Lüthi und Horacio Bresba kreuzten. Am späten Nachmittag des 2. Tages erreichten wir den Nordgipfel. Die Linie entsprach zwar nicht unserer ursprünglichen Idee, jedoch, wie ich Jahre später von einem Teilnehmer der “Ferrari-Expedition” erfuhr, konnten wir die zweite Bergbesteigung verbuchen, da niemand dieser Gruppe, wenige Wochen vor unserer Besteigung, den Gipfel betrat (Wandhöhe 800 Meter, VII-/A2, 25 Seillängen).
Am 20. Februar machten wir wieder einmal einen ernsthaften Versuch in der “Egger”-Route am Cerro Torre und kletterten in einem Zug (ca. 20 Std.) bis zur Engländerbiwak-Box (diese stammt von einem Versuch in der Ostwandverschneidung). Wie schon oft vorher, wurden wir in der Nacht vom Schlechtwetter überrascht, das uns zum Rückzug trieb.
Am 14. März glückte uns nach vorausgegangenen Versuchen die Überschreitung dreier äußerst imposanter Felsnadeln zwischen Cuatro Dedos und Bifida, alle unbestiegen. Wir benannten sie nach den Gottheiten der Inkakultur “Pachamama”, “Atchachila” und “Inti”. 21 Seillängen, Schwierigkeit VI+/AO (1 Pendelquergang), Zeit 12 Stunden.
Am 18. 3. gelingt die 2. Begehung der Cerro Grande-Nordflanke (55-65 Grad) solo, Abstieg über den Ostgrat.

1993 mit Partner Gerold Dünser und Toni Ponholzer. Im patagonischen Spätherbst bzw. Winter (April-Juni) kamen wir in der “Egger”-Route am Cerro Torre mit einem selbst konstruierten Zelt (nur zum Sitzen) in einer neuntägigen Aktion bis auf ca. 300 Meter an die Gipfelpilze heran (siehe den Bericht).
Kurz vor der Abreise nutzten wir eine Schönwetterphase und erstiegen am 6. Juni den Domo Blanco als 2. Seilschaft über die unberührte Südflanke (Mixed 60-65 Grad).
Am 8. 6. standen wir noch am Gipfelpilz des Cerro Doblado, ein eindrucksvoller, selten bestiegener, aber leichter Patagoniengipfel.

1994 im März ein Versuch mit Ermano Salvaterra, einem italienischen Patagonienspezialisten, an der “Egger”-Route am Torre. Umkehrpunkt oberhalb Schneedreieck (Wetter und Verhältnisse schlecht). Im April Versuch einer Solobegehung der Route “Exocet” am Cerro Standhardt. Durch Schlechtwettereinbruch im oberen Drittel des Eiskamines abgebrochen. Begehung des Cerro Solo vom “Bridwell”-Lager in weniger als 2 Stunden.

1995 zuerst mit Julian Hevia (Spanien) am 24. Jänner Aguja Rafael Juarez (Innominata)-Nordkante (Piola/Anker), laut Topo nur wenige Seillängen original geklettert (VII-A2).
Am 27.1. mit Julian an der Saint Exupery den Westpfeiler (Route “Claro de Luna” von Giordani), eine traumhaft schöne Linie. Bis zum ersten Pfeilerkopf kletterten wir in einer neuen Variante acht Seillängen Vl+ in einem bisher unberührten Riss-System (3. Beg. der “Giordani”-Führe).
Vom 16. 2. bis 24. 2. mit Toni Ponholzer ein Versuch, die 1400 Meter hohe Aguja de la Silla-Westwand im “BigWall”-Stil erstmals zu durchsteigen. Nach 8 Tagen in der Route u. 23 eroberten Seillängen durch Sauwetter und viel Neuschnee gescheitert.

Venimos otra vez” – wir kommen wieder!

Leaving in Fear
von Heli Neswadba

Heli Neswadba in Le petit Mort (IX-)

Während des Weitergreifens hinauf in den kleinen Fingerschlitz, den ich nun schon so oft erreicht hatte, schüttle ich kurz meinen rechten Arm aus. Ich weis, dass dies die einzige Möglichkeit sein wird, dem drohenden Versagen meines Unterarmes entgegenzuwirken. Sekundenbruchteile später beginnen sich meine Fingerspitzen in den schmalen Riss hineinzuquetschen – nun noch schnell das Seil in die dort baumelnde Expressschlinge klinken und mit Vollgas hinein in die Schlüsselstelle. Doch ist da auch noch mein linker Unterarm, der sich während dieses Einhängemanövers zu erholen hat. Wie das funktionieren soll, weiß man selbst oft nicht so recht, doch nie, niemals darf man die Notwendigkeit solcher Versuche in Frage stellen, um nicht ein vorzeitiges Scheitern an einer Route zu verursachen.

Mein rechter Fuß steht auf Reibung, der linke versucht der aufkommenden Drehbewegung entgegenzuwirken, indem er einfach frei in der Luft baumelt. Der nächste Dynamo sollte eigentlich das Schwierigste in dieser Route werden. Ganz ruhig wird es um mich herum, mein Denken und Handeln beschränkt sich nun auf wenige Zentimeter Fels. Einige meiner Freunde aus der amerikanischen Kletterszene hatten meinen Versuch vom Anfang an beobachtet und hätten ihre Gedanken Kräfte übertragen, so wäre ich sicher mit Leichtigkeit über diese schwersten Meter hinweggeklettert. Wie durch einen Zeitraffer sah ich mich nun bei diesem Dynamo, mein Körper schnellte nach oben und fast gleichzeitig begann mein Oberkörper leicht nach hinten, der Schwerkraft ihren Tribut leistend, zu kippen, als sich meine Finger am nächsten Griff festzuklammern versuchten. Ich konnte förmlich meinen rasenden Puls fühlen, wusste, dass ich diese Route klettern könnte und im selben Augenblick spürte ich diese Unruhe in mir aufkommen. Ich versuchte meinen Kopf und damit die Nervosität auszuschalten, mich ganz auf das Kommende zu konzentrieren – aber da passierte mir dieses Missgeschick. Ich hatte meinen Fuß nicht präzise genug auf diese kleine Leiste gestellt, hatte mich gut gefühlt und im nächsten Augenblick wusste ich nicht, wie mir geschah, bis ich im Seil sitzend registrierte, diese Chance vergeben zu haben.

Gespenstisch huschen die Schatten des hoch lodernden Lagerfeuers um mich herum. Die leeren Bierdosen stehen da wie eine Reihe Zinnsoldaten und in diesen immer wechselnden Lichtverhältnissen schien es, als würden sie unruhig zum Aufbruch rufen. Ich hatte mir eine neue Taktik zurechtgelegt. Eine Taktik, mit der ich es einfach schaffen musste. Ein leichter Luftstoß ließ das fast abgebrannte Feuer nochmals aufflammen und meine Freunde, die kleinen Schattenmenschen, kehrten wieder zurück, um ihren letzten Tanz am Feuer zu beginnen.

Mit quietschenden Reifen kam Lionas blauer 1973er VW-Bus zum Stehen. Die untergehende Sonne ließ mir keine Möglichkeit ins Fahrzeuginnere zu sehen, als plötzlich aus dem halbgeöffneten Seitenfenster eine “Powerbar” (Müesliriegel) geflogen kam. Ohne auch nur ein Wort mit uns gewechselt zu haben, verschwand Sekunden später dieser Schattenmensch mit seinem blauen Flitzer in der Staubwolke seiner rotierenden Räder. Während die Nichtwissenden, immer noch kopfschüttelnd, auf die sich langsam auflösende Staubwolke starrten, hatte ich schon Phase I meiner Rotpunktbegehung der Route “Leaving in Fear” eingeleitet und mit dem Verspeisen der “Powerbar” begonnen.

Wenig später war es dann an der Zeit, einen Versuch zu starten. Einer meiner Zinnsoldaten hatte mir den Rat gegeben, es doch mit einem neuen 8.7mm-Halbseil (Phase II!) zu versuchen und jetzt, einige Meter über der Sicherung, lief mir der Arsch auf Grundeis. Wieder einmal versuchte ich, mich nur auf die Bewegungsabläufe zu konzentrieren. Mein Atem ging stoßweise, doch die Nervosität schien sich zurückzuziehen und mein Kletterstil begann einer perfekt einstudierten Turnübung zu gleichen. Ich spürte nicht den Schmerz, während ich meine Finger in den feinen Schlitz quetschte. Unendlich leicht erschien mir das Seil, wie ich es in die Karabiner klippte, und plötzlich kam mir zu Bewusstsein, wie gut meine Chancen bei diesem Versuch waren. Schon katapultierte ich mich nach oben, den Körper ganz nahe am Felsen, um den nächsten Griff so richtig anzupacken. Ich war über meine letzte Sturzstelle hinweggeklettert und meine Bewegungen schienen nun programmiert zu sein – ich durfte einfach nicht mehr stürzen! Immer wieder begann ich meine Arme kurz auszuschütteln und unablässig stieg ich höher. Meiner Atmung nach hätte eigentlich schon ein Vakuum in dieser Schlucht entstehen müssen, so gierig nahm ich den Sauerstoff in mich auf Ich wusste, dass dies eine kleine Hilfe sein würde auf dem Weg zu meinem persönlichen Gipfelerfolg. Nun war die letzte Zwischensicherung schon hinter mir, nur noch der letzte Zug fehlte mir zu meinem Glück und plötzlich hatte ich es geschafft. Mein Ausdruck lautstarker Freude schallte durch das kleine Tal, um weit draußen zu verhallen, dort, wo für mich alles begonnen hatte.

No way out! Der 10. Grad beim Sportklettern ist mir nicht gerade in den Schoß gefallen. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass ich Touren mit der magischen Zahl 10 hatte klettern können? Es war ein langer, mühsamer Weg dorthin, gespickt mit unzähligen Stolpersteinen, den ich vor ein einigen Jahren zu erforschen begann.

1991: Einige Male war ich in dieser Saison nun schon am “Schleier Wasserfall” am Kaisergebirge bei St. Johann/Tirol gewesen und es war an der Zeit den 10. Grad anzukratzen. Mit der Route “Die letzte Sau” (Schwierigkeit 9+/10-) gelang mir auch der Einstieg in diese für mich noch unbekannte Welt.

1992: Nun wollte ich es aber ganz genau wissen. Zusammen mit meiner Freundin Andrea begab ich mich auf eine 13-monatige Weltreise, nur um das ganze Jahr über Sportzuklettern. Zu dieser Zeit wollte ich noch Profi werden und mit diesem Ziel vor Augen schaffte ich es auch, auf meinem neuen Weg ein wenig vorwärts zu kommen. Und das auch noch mit einer meiner Erstbegehungen, mit “Le petit Mort” (Schwierigkeit 10-, in Buandik in Australien).

1993. Australien schien ein gutes Pflaster für mich zu werden. Ich wollte weiterkommen, versuchte stetig schwieriger zu klettern, doch immer wusste ich dabei, wo meine Grenzen lagen. Der Schritt zum reinen 10. Grad ergab sich dann durch puren Zufall. “Lord of the Rings” (Schwierigkeit 10) – diese Tour gelang mir in dem bekannten Klettergebiet Arapiles. Hätte ich im Vorhinein gewusst, dass diese Route so schwer bewertet sein würde, so hätte ich wohl meine Finger davon gelassen. Doch als ich bemerkte, ich könnte diese Route klettern, wollte ich da einfach hinauf. Ebenfalls ein Höhepunkt in diesem Jahr war die Route “Slayer” (Schwierigkeit 10, Cave Rock in Amerika). Ich war nun an meinem vor Jahren gesteckten Ziel angelangt, konnte aber weit und breit kein Ende sehen. Doch wusste ich nun, ich würde diesen Weg weitergehen, auch wenn es vielleicht niemals ein Ende geben wird.

1994: Meine Ausdauerkraft beim schweren Sportklettern begann sich zu steigern. In nur einer Woche gelangen mir in diesem Jahr fünf Routen im 10. Grad:

Pistolero 9+/10- Chinesische Mauer Wetterstein
Kangeroo jump 9+/10- Chinesische Mauer Wetterstein
Caramba 9+/10- Chinesische Mauer Wetterstein
Plus pres le Ciel 10- Chinesische Mauer Wetterstein
Ex-Express 9+/10- Arco

1995. In diesem Jahr begann ich das erste Mal, im Winter auf einer Kunstwand zu trainieren. Die Früchte dieses Trainings konnte ich bereits im Frühjahr ernten. Mit “Berg Hel” (Schwierigkeitsgrad 10/10+, im Dschungelbuch bei der Martinswand) gelang mir mein bisher schwerster Anstieg. Ebenfalls ein Höhepunkt, und der Lohn des harten Wintertrainings, war die Route “Leaving in Fear” (Schwierigkeit 10, in Rifle -Colorado/Amerika).

Insgesamt gelangen Heli Neswadba in den letzten fünf Jahren u. a. folgende Routen:

  • 260 Routen mit Schwierigkeitsgrad von 8- bis 8+
  • 290 Routen mit Schwierigkeitsgrad von 9- bis 9+
  • 43 Routen mit Schwierigkeitsgrad von 9+/10-
  • 17 Routen mit Schwierigkeitsgrad von 10-
  • 4 Routen mit Schwierigkeitsgrad von 10
  • 1 Route mit Schwierigkeitsgrad von 10/10+
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