90 Jahre Gipfelstürmer 1911-2001
Zum Geleit
von Heli Ohnmacht
Wie wär das Leben ohne sie…
Wie wär wohl ein Leben ohne sie, die “Gipfeler”, ohne die wöchentlichen Abende, an denen sie erzählen von staubenden Pulverabfahrten, vom Firn grad oan Finger dick, so richtig zum abischmiern, von Wechten und Graten, von Wänden und Schluchten. Vom Abseilen an oan kloan Nasele, von an Griff grad dass den kloan Finger einibringsch.
Wie wär wohl ein Leben ohne die gemeinsamen Erlebnisse am Berg, beginnend still und schweigsam in der Früh, wenn der Nebel aus den Tälern nach oben flieht und die Wände und Türme einpackt und die ersten Strahlen der jungen Sonne darinnen baden, dann weiter oben wenn man Höhe gewinnt, hineinschauen kann in die Geheimnisse unserer Bergwelt, in die Kare, Wände und Schluchten und unbändig dann dort oben wo es nicht mehr weiter geht, wo sich Grate und Wände treffen dort am Ufer zum Drüben, zu jener Welt, wo unsere Freunde sind, der Heindl, der Luis und und und.
Wie wär wohl ein Leben ohne den Schmerz den wir bei deren Heimgang erleben mussten, als wir sie das letzte Mal getragen haben, dabei in Gedanken versunken die letzten gemeinsamen Fahrten erlebt haben, wie damals in den Wänden der Fünffingerspitze mit Heindl.
Wie wär wohl ein Leben ohne Weihnacht in Heiligwasser, ein Fest, das uns von Jahr zu Jahr immer mehr bewegt oder ohne unsere gemeinsamen Stunden am Stoan, dort wo wir zurückdenken an die dort oben oder dort drüben.
Wie wär wohl ein Leben ohne die großen Bergfahrten mit Freunden, Gleichgesinnten, dort an den Grenzen des Erlebbaren, egal ob man selbst dabei ist oder lauscht wenn sie erzählen, dann wenn sie zurückkommen, vom Himalaja, von Patagonien, von Alaska oder sonst wo, mit Schätzen in ihren Herzen und Feuer in den Augen. Es wär kein Leben für uns ohne Euch liebe Freunde, jetzt, wo wir wissen welcher Reichtum sich in all den Jahren in uns angesammelt hat, ein Reichtum den man nicht kaufen und nicht verkaufen kann, ein Reichtum den man nur hüten und bewahren und miteinander teilen kann, ja teilen muss, nur so erreicht er seine volle Blume. Wir haben gelernt zu verstehen was gemeinsam wirklich heißt und bedeutet, dass es Toleranz braucht, aber dafür etwas Unersetzliches und beinahe Unbeschreibliches bringt. Seid unbesorgt, wir werden dieses Leben gemeinsam weiterleben wie bisher, der Geist in unseren Köpfen und die Gefühle in unseren Herzen sind stark wie nie zuvor und der Verein geht gesichert ins letzte Dezennium des ersten Jahrhunderts der Vereinsgeschichte. Wir “Alten” werden mit diesem 90ten einen geordneten Hof an die “Jungen” übergeben, an Freunde die uns in nichts nachstehen, im Gegenteil, von denen wir viel erwarten können.
Woher Kompass
von Klaus Geiswinkler
Woher kommt das – Ähh, was heißt hier Kompass, ziemlich verwirrend, blöder Name – vielleicht Ruhegebiet oder meinte Stefan Ruhrgebiet? Alles Rotscha oder was? Die Idee war zwar nicht mehr ganz neu, aber dafür ziemlich schlecht; jetzt mal im Ernst: Die Idee für diese Linie war schon über 10 Jahre alt. Baika war dieser glatte Wandteil schon 1984 aufgefallen, als sie rechts daneben die “Kitzbühlerplatte” eingebohrt hatten. Damals die erste Rotpunkt gekletterte 8+Route im östlichen Teil der Steinplatte.
Einbohrung: Da wir ernstzunehmende heldenhafte Alpinisten sind, war die wichtigste Ausrüstung unser 120-Meter Späleo-Seil und die Benzinbohrmaschine. Auf Grund unseres Übergewichtes setzten wir auf rostfreie Klebehaken Marke Austrialpin, gesponsert vom Alpenverein und den Zipfelwürmern… ähh Zipfelstürmern… Gipfelwürmer – Tschuldigung, kleines Wortspiel von mir! – nur so zur Auflockerung! (Auf Grund der geographischen Nähe Innsbruck Steinplatte Waidring war klar, dass uns der AV-Innsbruck unterstützen würde. So brauchten wir den Kitzbühelern kein Loch ins Budget bohren! Brumm, Brumm!). Da bekanntlich im Frühjahr südseitig kein Schnee mehr liegt, stapften wir hüfttief von Norden her mit 300 kg (vielleicht auch mehr). Unser Grundsatz war immer schon Ausrüstung gibt Sicherheit. Und heute hatten wir besonders viel Angst! Nach zwei Stunden bester Sherpaleistung erreichten wir endlich den Wieslochgipfel und fixierten unser Seil an vier Latschen und drei Klebehaken (sicher ist sicher!). Brumm, Brumm und vibrier, schon lachen die ersten Bohrhaken vor mir. Geblendet vom Glanz der Bohrhaken waren wir uns sicher, dass wir die Wand locker technisch durchsteigen konnten. Die Bohrmaschine als Griff (Maestri) deponieren, wäre natürlich auch eine Möglichkeit! Ach, hat sich erledigt, es ist doch ein gutes abschüssiges Zweifingerleisterl vorhanden . Von einem Winzling zum nächsten Winzling, der sich Griff schimpft, bohrten wir uns zum Einstieg nach unten. Am ersten Tag hatten wir die oberen zwei Seillängen eingerichtet. Manuela und Birgit warteten bei idealem Piz Buin-Wetter (Regen, Platzregen und Nieselregen) am Wandfuß und konnten es gar nicht erwarten, die zwei ausgefrorenen und verdreckten Helden wieder aufzumuntern. Der Held, der lässt die Arbeit ruhn und freut sich auf die Mädels nun. Birgit und Baika vervollständigten das Kunstwerk am darauf folgenden Wochenende bei schönem Wetter.
Erste Versuchung: Die erste Seillänge ist schon recht spektakulär, leicht überhängend, Dach, weiter Zug über die Kante als Schlüsselstelle. 20 Meter, 8-, Spaziergang für gute Kraxler, doch leider hatten wir dicke Arme und einen Hügel in der Hose (hinten). Zweite Seillänge: Kleingriffige, überhängende Wand mit gschissenem Übergang ins Flache. Fels a la Ceüse, 9-, Traumlänge. Dritte Seillänge: Sie ist zwar etwas länger (35 Meter), dafür aber nicht so leicht. Knapp senkrecht, Griffe sind spärlich aber schlecht, Tritte kaum vorhanden. Gott sei Dank haben wir zwei Deppen ausgerechnet hier mit Haken gespart. Scharrrr…, reffl…, schwub…-UUUUUUAAAAAA-HHHHH!!! …Poa, koa Bretzn!!!! Jung, dynamisch, erfolglos, wir sammeln Flugmeter! Nach einigen stillosen Abgängen (Angstschrei und schlechte Haltungsnoten) und nach einem nachträglich gebohrten Haken fügt sich ein genialer Boulder an den nächsten. Dann gelingt uns beiden ein sturzfreier Durchstieg – wir sind uns einig – 9+, eine der schönsten und kompliziertesten Längen, die wir je geklettert sind. Die Seillänge danach ist ganz gut um sich für die letzte Gemeinheit auszurasten. Letzte und Schlüssellänge: Und wieder fordert uns der Fels alles ab, besonders ab. Ab und zu abwärts. Zefix! Acht bis elf Versuche später: Zefix, total überfordert, mit viel Glück, bleibe ich an den fast nicht vorhandenen Griffen hängen – die letzte Stelle vom Einfinger-Untergriffloch ein weiter Sprung auf waagrechte Leiste – Füße auf Reibung – überraschender Durchstieg, kanns fast nicht glauben! Bravo Kasperl!! (25 Meter, 10-)
Woher Kompass: Die Route zieht kerzengerade durch den glatten Panzer des Wieslochpfeilers unmittelbar links der “Kitzbühlerplatte” an der Waidringer Steinplatte. Die Route wurde von oben eingerichtet und mit Klebehaken versehen. Material: 10 Express. Abstieg: Abseilen über die Route (70m Einfach- oder ein Doppelseil) oder zu Fuß durch die erste westliche Scharte (Latschen) und durch die Rinne zum Wandfuß (15 min.). Wandhöhe: 120 Meter. Schwierigkeiten: 1.SL 8-, 20 m / 2.SL 9-, 20 m / 3.SL 9+, 35 m / 4.SL 7, 25 m / 5.SL 10-, 25 m. Vorarbeiten: Frühjahr und Sommer 1999 durch Manuela, Birgit, Baika und Klaus. Alle Seillängen Rotpunkt geklettert im Sommer 2000. Erstbegeher: Bertram Prinz (Baika) und Klaus Geiswinkler Dieses literarische Meisterwerk wurde an einem trostlosen Vormittag im Februar 2001 durch mehrere Bierchen inspiriert und verfasst.
Öfelekopf SW-Pfeiler
von Toni Braun
Ostermontag morgens – Ein heller Schein fiel durch die Läden der Erinnerungshütte und kündete den nahen Tag. Unter uns lagen unsere Schi, an der braunen Hüttenwand hingen zwei dicke Seile. Widerwillig kroch ich aus den warmen Decken im Zdarskysack. Bald darauf brummte der Benzinkocher unter einem Topf mit kakaoschwarzem Haferflockenbrei. Das genügte auch Etti (Ettore Bozzoni). Er sprang herunter und wir packten unsere sieben Sachen. Die Tür ging auf, ein strahlender Wintermorgen flog in das kleine Hüttlein.
Dann standen wir draußen, die Bindung schnappte, der Schnee rauschte unter den Schiern fort. War das doch ein müheloses Schweben durch stäubenden Pulver. Hinein in den blauen, kühlen Schatten der Gehrenspitze, Schwung und wieder hinaus in die sonnenüberfluteten Hänge, aus denen die Wand meiner Jugend in den Himmel wächst. Nur zu schnell standen wir fast am Ende des Puitentales bei drei markanten Tannen. Im Rucksack waren Seil, Beschreibung und Schlosserei, unter uns aber rauschten Schi und vor uns lag ein sonniger Tag. Noch einmal glitten wir ein Stück hinunter, dann aber siegte in uns der Dämon Berg und die Lust nach Abenteuer und Gefahr. Die Rucksäcke blieben bei den drei Tannen, mit Schiern und Seil auf den Schultern strebten wir in einer Lawinenrinne aufwärts. Hier mussten wir ja auch heute Nachmittag herunterkommen, deshalb blieben auch die Schier bald hinter einem Felsblock zurück. Wir querten nach rechts, ließen Schuhe und Anorak bei einem dürren Baum, noch ein Quergang um einen vorgelagerten Turm und wir standen nach Überwindung einer Schneerinne am Einstieg.
Die dritte Seillänge waren wir nun schon durch den Risskamin heraufgeklettert und noch immer kein Haken! Aber es ging auch so. Ein gelber Überhang hängt über uns und da baumelt auch schon ein rostiger Ring. Langsam komme ich in der Wuchtel höher. Hier ein Hakenloch, Hammerschläge und Karabinerschnappen, noch einige Meter, ich habe gewonnen. Die nächste Seillänge bringt uns beide auf eine sonnige Terrasse. Hier bleiben wir ein wenig, wer wusste, was weiter kommt. Tief unten im Puitental standen unsere drei kleinen Tannen, genau sahen wir unseren Weg bis hierher. Am Söllerpass zogen zwei Schifahrer ihre Kometenbahnen in die gleißende Fläche. Im Westen schoss der Plattenpanzer der Schüsselkar lotrecht in den Himmel. Warm wurde es, die Sonne stand schon über dem Pflerscher Tribulaun und tauchte das Gefels über uns in grelles Licht und strahlende Wärme. Nun querte Etti nach links und ließ auf einem Köpfl nachkommen. Es kam eine graue Platte, die verteufelt nach Kaiser aussah. Der dritte Haken kam uns unter, noch waren wir am richtigen Weg. Eine kleingriffige 30Meter-Wandstelle, an die ich mit leisem Grauen gedacht hatte, erwies sich noch als ziemlich harmlos. Dann aber wurden wir aus der Beschreibung nicht mehr klug. Ich verfolgte kurzerhand einen fünfundzwanzig Meter hohen feinen Hakenriss, der in einem Überhang endete. Darunter aber war eine Nische und auf die baute ich. Verflixt schwer und abdrängend waren diese Meter, die drei Zughaken saßen schlecht. Erinnerungen an den Hechenberg tauchten auf. Hier wäre ein Flug noch ungemütlicher. Aber ich bin heute in Form. Verbissen komme ich höher. Schon bin ich in der Nische und grinse hinunter. Wahnsinn, ich bin schon wieder zu frech. Etti kommt nach und schüttelt den Kopf. Noch aber ist der Überhang da. Auf zwei wackeligen Tritten stehe ich langsam auf, erwische einen Bombengriff, stoße mich weg, beide Tritte brechen aus, was tut’s. Einen Augenblick hänge ich in der Luft, dann bin ich auf einer schönen Terrasse, genau wie wir erwartet hatten. Der letzte Traubenzucker musste dran glauben, dann sahen wir nach dem Weiterweg.
Nach der Beschreibung müsste entweder eine Verschneidung oder eine nach links führende Rampe kommen. Dort drüben wäre etwas Rampenähnliches. Und der überhängende Riss darüber müsste auch stimmen. Also versuchen wir den Quergang. Es war eine heikle Sache. Kein Tritt und Griff war zuviel. Oft glaubten wir, uns zerreißen zu müssen, dann aber waren wir wieder auf dem normalen Weg. Ein Haken fuhr in die Rampe, schon war ich im Riss, ein zweiter Haken hinein, der Riss wurde breiter, schnell kam ich höher, aber nirgends eine Möglichkeit mehr, einen Haken unterzubringen. Noch ein Stück weiter, auch nichts. Zurück, schnell zurück! Sonst lässt die Kraft nach. Ich hänge schon viel zu weit nach hinten. Wie bin ich bloß heraufgekommen? Wie? Herrschaft, die Finger, ich muss auslassen! Nein! Doch! Eine bleierne Ruhe überkommt mich nun. Etti Achtung, ich muss springen! Auf drei beide Seile ruckartig ein und schon zähle ich. Eins, dreihundert Meter bricht die Wand ab …, zwei, der obere Haken ist nur locker im Fels, zum unteren sind es fünf Meter …, drei – Sturz! Ein harter Aufprall am Knie, ich hänge einen halben Meter unter dem oberen Haken. Das war ein Meisterstück von Etti, der sofort heraufkommt und zwei Verbände über das stark blutende Knie legt. Ein wahnsinniger Schmerz lässt mich die Zähne zusammenbeißen und dann dieser Durst. Das letzte Wasser rinnt durch meine Kehle. Ob ich klettern kann? Etti weiss genau, dass nun er die Stelle zu meistern hat, aber er gestand mir später, dass er nie daran glaubte, darüber zukommen und dennoch, er bleibt ruhig. Ich kenne das Biest schon, gebe ihm Ratschläge, so kommt er Meter um Meter höher, in allen unmöglichen Stellen bringt er Haken unter, dann verschwindet er aus meinem Blickfeld. Da höre ich aus dem dunklen Riss ein wütendes Zischen! Ich untersuchte die Sache näher, wütend pfauchte es aus dem Spalt. Aber ich konnte nichts entdecken. Das Seil lief schon schneller, dann hörte ich endlich das befreiende „Nachkommen!“. Nur weg von diesem Ort des Grauens, hinauf über die trennenden Meter. Bei jeder Bewegung hätte ich schreien können. Noch einmal blicke ich bei der Sturzstelle zurück. Starr blicken die Eiskaskaden der Schlucht herauf, als möchten sie sagen: „Merk es Dir, zuerst denken, dann handeln!“.
Die Schwierigkeiten waren nun vorüber, doch nun kam der Schnee. Etti führte Länge um Länge. Langsam ging bei mir das Gehen wieder leichter. Plötzlich standen wir vor einer glatten, vereisten Verschneidung. Links war ein Auskommen unmöglich, rechts kam Etti nach einem Zwanzigmeter-Versuch zurück. Fragend sah er mich an. Ich hatte Fibram-Sohlen an den Schuhen und auf die hatte er beinahe mehr Vertrauen als ich selbst. „Tut’s fest weh?“ fragte er, „Probier’s doch“. Und ich probierte es, kam unter das Dach, wütend arbeitete der Hammer, Eis polterte hinunter. Stemmend und spreizend komme ich zwischen Fels und Eis höher, Etti jubelte. „Du bisch a Hund!“ rief er hinauf. Diese Anerkennung freute mich. Noch ein paar wohlüberlegte Bewegungen, dann wate ich durch tiefen Schnee in leichteres Gelände. Der Weg zum Grat ist frei, aber noch wehrt sich die Wand mit Schnee, Eis und einer beispiellosen Brüchigkeit. Etti quert gerade zwanzig Meter nach links, ich sehe ihn nicht. Auf einmal schreit er: „Jiatzt hebn, Toni!“. Mir wird kalt und warm. Fünf Meter Seil liegen noch vor mir und kein Zwischenhaken. Ich ziehe ein. „Nit!“ brüllt er herüber. Spinnt er am Ende, dachte ich mir. Als ich aber bei ihm war, zeigte er mir im Kamin einen Stein von stattlichen Ausmaßen, der sich ihm freundschaftlich auf das Knie gelegt hatte, als er ihn auf seine Festigkeit prüfte. Mit Mühe und Not konnte er sich von diesem vierzig Kilogramm schweren Apparat befreien und hatte in seiner Verzweiflung statt „Achtung“ „Heb“ gerufen. Und dieser Regiefehler wäre bald schlecht ausgegangen. Felsrippen und Schneerinnen folgten, dunkler und dunkler wurde es. Nur mehr ein schwacher grüner Streifen stand am Horizont als wir ausstiegen.
Schwarz ragten die beiden Schwesterwände Schüsselkar und Musterstein in den Sternen übersäten Himmel. Einsam stand dreißig Meter über uns das Gipfelkreuz. Doch wir mussten schleunigst hinunter. Noch war vielleicht der Schnee in der Rinne weich. Meter um Meter kämpften wir uns hinab. Hohe Verwehungen, dann Fels, dann wieder Eis. Wie wird bloß die Rinne sein? Wie kommen wir überhaupt dort hinein? Sind oben Abbrüche? Was tun, wenn eine hohe Wand den Zugang sperrt? So wie diese. Diese hier, die auch südwärts hinunterstürzt. Halt, schon wieder ein Steinmann. „Seil aus!“ hallte es herunter. „Nachkommen!“. Und wieder beginnt der Kampf mit Fels, Eis und Schnee, hinein ins Ungewisse …
Der Schnee war weich gewesen, auch der Abbruch war nur fünf Meter hoch und leicht abzuklettern. Wir glaubten also, mühelos hinunterfahren zu können. Aber wir hatten uns gewaltig verrechnet. Härter und härter wurde der Harsch. Oben waren wir frei gegangen, dann musste ich schon mit meinen festen Sohlen kräftig zuschlagen, um durch die Harschdecke zu stoßen. Meine Verletzung spürte ich kaum mehr, nur hinunter, hinunter! Aber noch härter wurde die Oberfläche, der Hammer musste herhalten. Für jeden Meter drei Hammerschläge. Die Scherben flitzten hinunter, genau wie heute am Einstieg oder war es schon gestern? Uninteressant, nur weiter, dieser Schlaf, meine Hände sind gefühllos, die Rechte schwingt den Hammer unaufhörlich, die Linke, mit einem Handschuh Ettis bewehrt, verkrallt sich in den Kerben und Löchern. Immer im gleichen Takt, monoton und stur. „Seil aus!“ Ich fahre zusammen. Ach ja, da oben steht der Etti. Ein Loch wird gemeißelt, ich breche durch. Ein Stand entsteht, der Einzige für die nächsten dreißig Meter. Etti kommt nach. Langsam gleitet das starre Seil über die harte wellige Fläche. Ich dämmere mit dem Kopf an das Eis gelehnt ein. Er wird schon melden wenn er rutscht. Seine Schritte werden lauter, er steht neben mir. Und weiter wütet der Hammer, weiter spritzen Splitter hinab, eine Perlenkette von Stufen entsteht. Endlos, endlos! Nein, so geht das nicht mehr weiter, die Rinne ist so und so schon flacher. ich lasse Etti kurzerhand hinunter. Ein Stück nur, eine Versuchsstrecke, dann nehme ich einen Eishaken und fahre, mit dem Kopf dem Eis zugewendet und mit Fußspitzen und Haken bremsend hinab. Es geht, welch ein Jubel. Zwar werde ich verteufelt schwach in den Handgelenken, aber wir gleiten doch schnell abwärts. Einmal komme ich dabei auf Glatteis und lande mit enormer Wucht auf Ettis Kopf, dass es ihn zusammenstaucht wie ein Taschenmesser. Er prüft seinen Globus auf Breite und Höhe und siehe, nichts ist aus den Fugen gegangen.
Langsam meldet sich unser Humor wieder. Auch der Mond taucht auf und in seinem Licht queren wir nach rechts in das Grasgelände. Nach langem Suchen fanden wir unser dürres Bäumchen wieder. Da lagen noch Schuhe, Socken und Anorak. Nichts mehr konnte uns jetzt noch drängen, unseren ersten Stützpunkt hatten wir gefunden, der Berg hatte uns freigegeben. Noch einmal sahen wir hinauf zu dieser schwarzen Säule, wir drückten uns die Hände. Nasse Strümpfe, Seil, Schlosserei, Patschen, alles verschwand im Rucksack. Landjäger und Brot werden hervorgezaubert, das gab es ja auch noch außer Schnee und Fels.
Bald waren wir bei unseren Schiern und ich war neugierig, wie sich mein Knie benehmen würde. Und siehe da, es ging. Zwar knirschte ich mit den Zähnen bei jedem Rechtsschwung, sonst aber war es ein wunderbares Gleiten zu unseren drei Tannen. Hier vertilgten wir vorerst einen Wecken Fettbrot, dann verließen wir auch diesen Stützpunkt und fuhren hinaus zum Ende des Puitentales. Hier war es aus mit dem Schnee. Wenn wir nicht so müde gewesen wären, hätte uns der Mond noch ein paar Mal hinaufgehen sehen. So aber torkelten wir wie zwei Besoffene die Rinne hinab und setzten uns oft freiwillig und unfreiwillig nieder. Je flacher es wurde, desto mehr schliefen wir während des Gehens und wachten immer erst auf, als wir wieder am Boden lagen. Auf einmal standen wir dann auf einem regelrechten Weg. Nur bei Wasserstellen machten wir nun noch Halt und diese waren nicht selten, denn neben uns verlief eine hölzerne Rohrleitung. Wir traten aus dem Wald, dort drüben stand der Bauernhof, wo wir unsere Räder eingestellt hatten. Und hol’s der Kuckuck, die hatten noch Licht. „Schau amol da umi“, sagte Etti. Ja tatsächlich, da wurde es heller. Keine Phantasie, es wurde grün im Osten. Ist es möglich, dass es der Mond so hell macht?
Mittlerweile waren wir am Bauernhof angekommen, nach energischem Klopfen wurde geöffnet. „Bittschön, könnten wir da wo übernachten?“ fragten wir. „Jetzt um sechs Uhr wollt Ihr übernachten?“. Wir sahen uns betroffen an. Nun wussten wir, warum es hell geworden war da drüben, die Bäuerin erkannte uns und erfreut wurden wir in die Stube geschoben. Heißer Kaffee und Brot wurde aufgetischt. Dann verrollten wir uns auf die warme Ofenbank und wenn wir auch nicht übernachteten, so übertagten wir halt. Mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl schlummerte ich ein …
Als ich wieder erwachte, fielen die Sonnenstrahlen schon steil in die warme Stube. Wir waren allein, die Familie wagte sich nicht herein. Wir waren gerührt von dieser edlen Gastfreundschaft und zum Zeichen, dass wir ausgeschlafen hatten, sangen wir ein Lied.
Am Hechenbergeinstieg hatten wir die erste Strophe gesungen, nun kam die zweite.
„Alle kleinen Sorgen sind nun ausgemacht, in die Hütten ist der Schein gedrungen. Gefallen ist nun das Tor der Nacht vor Freude, Freude ist es zersprungen.“
Wieder war es still hernach, wieder war es wie ein Bekenntnis. Freut euch, freuet euch, ihr habt gesiegt über Nacht und Grauen, ein neues Leben ist euch geschenkt, ein neuer sonniger Tag liegt vor euch. Mit anderen Augen seht ihr wieder Wiesen, Blumen und Wolken und das Murmeln der Bäche und das Zwitschern der Vögel klingt euch als hättet ihr es nie gehört.
29. März 1948 – Durchsteigung des Südwest-Pfeilers am Öfelekopf im Wettersteingebirge mit Ettore Bozzoni bei tiefwinterlichen Verhältnissen (Die Erstbegeher waren Hans Frenademetz, Wastl Mariner und Hias Rebitsch VI).
Garwal-Himal Bhagirati I
von Sepp Jöchler
Im Jahre 1988 bestieg die Seilschaft Christian “Grisu” Zenz und Sepp Jöchler den Gipfel des 6.856 Meter hohen Bhagirati I im Garwal-Himal über den Westgrat-Pfeiler. Es war dies die 3. Besteigung dieses Himalayagipfels, zugleich auch die erste, die im echten Alpinstil durchgeführt wurde. Soll heißen, es wurden bei diesem Unternehmen weder Fixseile verwendet noch Wandteile in irgendeiner Form vorbereitet. Aufstieg und Abstieg führten über die gleiche Route, 5 Biwaks waren bis zur erfolgreichen Beendigung des Unternehmens notwendig. Die Schwierigkeiten im Fels: VI+/A2 und teilweise mixed-climb, die reinen Eisabschnitte gingen bis zu 55°.
Grönland Kalaallit Nunaat
von Harry Riedl
Land der Menschen. Fünf Jahre meines bergsteigerischen Lebens beschäftigte mich Grönland intensiv. Seit der ersten Fahrt 1991 bin ich vom Virus des Nordfiebers infiziert. Über den Verlauf der hartnäckigen Krankheit könnt ihr im folgenden Rückblick lesen. Aber Vorsicht! In manchen belegten Fällen wurde das Nordfieber durch Buchstaben lesen übertragen…
1991: Schon lange haben wir drei, eigentlich zwei, uns auf diese Bergfahrt vorbereitet. Der dritte, Robert Peroni, ein bekannter Grönlandexperte, ist schon drei Wochen vor uns nach Ostgrönland geflogen. Der zweite, Sigi Girstmair, hat Grönland schon 1988 im Sommer besucht und dort mit seinen drei Gefährten eine Erstbegehung im jungfräulichen Fels Südgrönlands gemacht. Sigi und ich (ein “Grönland Newcomer”) sitzen nun in Kopenhagen und hängen bei italienischem Wein und Essen unseren Gedanken nach. Wird es kalt werden? Werden wir genug Material mithaben? Wird Flugwetter herrschen? Werden wir Robert rechtzeitig treffen, ja und die Eisbären, werden wir …? Viele Gedanken, die sonst einfacher zu beantworten sind. Diesmal geht es aber nach Ostgrönland, dann noch Ende Winter, irgendwie wussten wir, dass diese Fahrt einmalig werden würde.
Durch ein Missverständnis versäumten wir fast unser Flugzeug von Island nach Grönland. Ein gutes gekühltes Bier an der Flughafenbar von Keflavik und unsere nicht vorhandenen Kenntnisse der grönländischen Sprache (wir konnten die Abflugdurchsage nicht verstehen) hätten bald das Aus unserer Reise bedeutet. Nach unserem Abflug konnte drei Wochen wegen Schlechtwetters kein Flug nach Kulusuk (Ostgrönland) mehr durchgeführt werden. Freundlich lächelnd schob uns die grönländische Stewardess unseren Imbiss zu, als plötzlich in der Ferne eine Wolkenbank auftauchte. Eilig schlang ich meinen Lachs hinunter und versuchte mit meinem Fotoapparat ins Cockpit zu kommen. Da dies in Grönland kein Problem zu sein scheint, konnte ich die vermeintliche Wolkenbank ohne störende Flugzeugfenster im Bild fotografieren. Doch die Wolken lagen tief, sehr tief sogar. Es war Eis. Die Dänemarkstraße begann hier zum ostgrönländischen Festland hin einen dicken Eispanzer zu bilden. Einige Minuten später tauchten die ersten Eisberge auf. Wie Zähne aus einem Wolfsmaul ragten sie aus der Eisdecke. Noch sind sie gefangen, doch in ein paar Wochen werden wie ihren Weg nach Süden fortsetzen. Nach einem abenteuerlichen Flug durch die bizarren Berge Ostgrönlands landete das Flugzeug auf einer Schneelandepiste in Kulusuk/Kap Dan.
Mit Sonnenschein, Windstille und -25 Grad Kälte empfing uns Grönland. Durch die extreme Lufttrockenheit wird die Kälte erträglich. Paradiesisch ruhig und weit scheint hier alles. Das Knattern unseres Hubschraubers, übrigens außer dem Hundeschlitten das einzige Transportmittel in Grönland, ließ uns unsere offenen Münder wieder schließen. 20 Kilo pro Person durfte unsere gesamte Ausrüstung nur wiegen, sonst müsste der Hubschrauber nochmals für das Gepäck fliegen. Ein zusätzlicher Flug würde den Preis in die Höhe treiben. Wir hatten geringfügig mehr Gewicht, da wir ja auch unsere Spezialnahrung für die Besteigungstage mit uns führten. Als der Hubschrauberpilot mit dem Flugzeugpiloten ein paar Worte wechselte, verstauten Sigi und ich unser gesamtes Gepäck und nahmen sofort im Hubschrauber Platz. Wir versicherten ihm, nur 20 Kilo geladen zu haben, daraufhin lachte er und hob Richtung Angmassalik ab.
Während unseres Fluges sahen wir Jäger unter uns, die mit ihren Hundeschlitten scheinbar ziellos über die unendlich weite Eisfläche glitten. Sigi saß vorne neben dem Piloten um zu fotografieren, als ihm im Norden ein steiler, kühner Gipfel auffiel. Dieser sollte einige Wochen später von uns wintererstbegangen werden. Als wir im Dorf landeten, kümmerte sich niemand um uns eigenartige Ausländer, die unbedingt Berge besteigen müssen. Nur einer norwegischen Damenexpedition, die als erste reine Damenmannschaft übers Eis wollte (Überquerung der Eiskappe nördlich des Nansen-Weges), passten wir anfangs nicht ganz ins Konzept. Vielleicht dachten sie, wir wollten ebenfalls parallel zu ihnen übers Eis. Bo Thallund, ein Freund von Robert, empfing uns freundlich und zeigte uns eine kleine Hütte aus Holz, die dieser für uns organisiert hatte. Fremdenverkehr bzw. Möglichkeiten zur Übernachtung gab es hier nicht. Einem Brief entnahmen wir, dass Robert sich bei seinen grönländischen Freunden im ca. 80 km entfernten Sermiligaq aufhält und erst in zwei Wochen zu uns zurückkehrt. Robert, der Grönland schon über zwanzig Mal besucht hatte und dabei mehrmals für Expeditionen (1983 Inlandeisüberquerung / 1400 km in 88 Tagen, 1989 erste polare Winterexpedition mit Versuch Inlandeisüberquerung), hatte also das Vertrauen, dass wir auch ohne ihn zurechtkommen. Bei nächtelangen Gesprächen in Bozen lehrte er uns einiges über die Grönländer. So fanden wir uns auch schnell mit den Gegebenheiten in diesem kleinen Jägerdorf zurecht. Mit den Bergen sah dies allerdings etwas anders aus. Nachdem wir unser Material für unsere Begehungen in Ordnung gebracht hatten, verließen wir mit unseren Schiern zum ersten Mal das schützende Dorf. Das Wetter war schön, aber kalt, sie Sicht gut, Schnee und Eis ebenfalls gut. So gelangen uns in den ersten Tagen schöne leichte Gipfel in der Nähe unseres Dorfes. Einzig und allein die Entfernungen ließen uns verzweifeln. Durch die klare trockene Atmosphäre sind die Strecken vom Ausgangspunkt zu den Gipfeln nicht bzw. nur schwer einschätzbar. So wurden “Trainingsgipfel” plötzlich zum beinhart erkämpften “Mitternachtsgipfel”.
Doch als das Wetter umschlug, sollten wir Grönland erst richtig kennen lernen. Schwierigere, weiter entfernte Gipfel waren jetzt unser Ziel. Robert warnte uns immer vor dem Pitteraq, einem Fallwind, der von der Inlandeiskappe Richtung Küsten abfällt. Er ist extrem kalt und durch die kanalisierende Wirkung des Küstengebirges über 200 km/h schnell.
An einem Sonntag zogen wir bei starkem Wind los, um mehrere unbenannte Gipfel in Folge zu überschreiten. Schon am Fjord unterhalb des Dorfes glaubten wir umdrehen zu müssen. Der scharfe kalte Wind nahm uns den Atem. Nach kurzem Wortwechsel entschieden wir uns, unser Vorhaben durchzuziehen. Ehrgeizig erreichten wir nach mehreren Stunden den steilen Anstieg zum ersten Gipfel. In der Ostflanke, also im Windschatten kämpften wir uns über einen verschneiten Grat zum Gipfel. Sofort Abstieg zum Skidepot, Abfahrt in ein Hochtal. Was nun beim Aufstieg zum zweiten Gipfel folgte, hatten sowohl der erfahrene Sigi als auch ich noch sehr selten erlebt. Der Wind war so stark, dass er uns samt Schiern nach einer Kehre den 30 Grad geneigten, völlig harten und nur durch große Schneegangeln unterbrochenen Hang hinaufschob. Riesige Mengen Schnee wurden verfrachtet. Alarmzeichen! Nun brannten wir vor Ehrgeiz. Ein Gipfel, der bei schönem Wetter kein Problem darstellt, soll plötzlich unmöglich werden? Ohne miteinander zu sprechen, was ohnehin schon nicht mehr möglich war, hatten wir nur ein Ziel, den Gipfel.
Unterhalb einer Eisflanke schnallten wir unsere Schier ab und zogen Steigeisen an. Über eine kurze steile Stufe ging es in den Grund eines Kamins. Als Sigi mein Gesicht sah, deutete er mir besorgt, dass meine Nase und Wangen bereits weißgefroren waren. Der Wind wurde immer stärker und meine Fellkapuze schützte nur bedingt. Vorsichtig spreizten wir den Kamin seilfrei höher. Als wir nach unten sahen, wirbelte der Wind kieselsteingroße Felsstücke durch den Kamin herauf! Sigi kletterte schneller als ich und verschwand direkt am Grat, in den dieser Kamin einmündete. Vorsichtig erreichte ich den Grat und sah Sigi zusammengekauert mit einem breiten Grinsen hinter einer Wechte am Gipfel sitzen. Die letzten Meter kroch ich zum Gipfel, da der Wind ein Gehen unmöglich machte. Handschlag und ein besorgter Blick von Sigi sagten mir, dass mein Gesicht nicht besser ausschaute und der Wink noch stärker werden würde. Bei den Schiern angekommen war das Schneefegen so stark, dass wir nichts mehr sehen konnten und so erwischten wir den falschen Hang. Als wir in den Hang einfuhren, erzitterte dieser plötzlich und setzte sich in Bewegung. Sigi wurde langsam verschüttet und auch ich am Rande des Hanges wurde von meiner Beobachterstellung aus mitgezerrt. Eine Mulde etwas unterhalb stoppte das Schneebrett. Sigi konnte sich selbst befreien. Nochmals Aufstieg Richtung Sattel, da bei dieser Schneebrettgefahr nur die Luvhänge zu befahren waren. Im Fjord angekommen, holte Sigi seinen Biwaksack heraus. Beide fassten wir ein Ende und ließen uns mit großer Geschwindigkeit Richtung Dorf ziehen. Nach mehreren Stürzen (Biwaksacksegeln ist nicht einfach) erreichten wir völlig durchgefroren unsere kleine Hütte!
Die nächsten zwei Wochen war das Wetter völlig schlecht. Nebel, Wind, Schnee! Einmal marschierten wir einen Tag im Kreis! Dieser Umstand überzeugte uns, mit den örtlichen Gegebenheiten bzw. mit den Jägern, Fischern und Einwohnern Bekanntschaft zu schließen.
Langsam kamen wir den Grönländern näher. Das tägliche Leben, sowie eine Hundeschlittenfahrt zur Robbenjagd und zum Dorschfischen ließ uns die herrlichen und faszinierenden Herzen und Seelen dieser Menschen kennen lernen. Die Zeit verging wie im Flug, aber das Wetter wollte nicht besser werden. Als eines Nachts der Himmel aufklarte, packten wir unseren Schlitten mit unserer Ausrüstung sowie Pulvernahrung für mehrere Tage. Schon früh am nächsten Tag spannten wir uns vor den Schlitten und zogen los. Durch die frisch verschneite Landschaft zogen wir unsere Spur. Am Fuße unseres Berges schlugen wir das Zelt auf. Während Sigi sich um das Zelt kümmerte, kochte ich einen Topf voll Biosorbin, welches uns am Berg ausschließlich als Nahrung diente. Robert nahm dieses Pulver einmal 88 Tage durchgehend zu sich. Das durch Bananengeschmack zu verbessernde Pulver ist leicht und beinhaltet alles um Hochleistungen zu vollbringen. Mit dem Polhems Fjeld gelang uns am nächsten Tag die erste Winterdurchsteigung der Südwand. Nach einer kalten Biwaknacht (-20 Grad im Zelt!) gelangen uns noch zwei schöne Gipfel im Massiv des Polhems. Zu schnell vergingen die Wochen und mit dem letzten schönen Tag verließen wir mit Hubschrauber und Flugzeug Grönland. Robert, der eine Woche nach uns nach Kopenhagen fliegen wollte, war drei Wochen im grönländischen Schlechtwetter gefangen. Wieder hängen wir wortkarg in einer Bar in der Kopenhagener Innenstadt. Dieselbe Situation wie Wochen zuvor, nur diesmal waren wir um eine Faszination reicher. Unsere Wehmut und Sehnsucht nach diesem Land legte sich erst, als wir uns nach mehreren Bieren versprachen, zurück nach Grönland zu kommen.
1993: Schon wieder zog uns das Nordlicht nach Grönland. Diesmal im Winter. Der Februar sollte unsere Reisezeit sein. Wir wollten mit einem Schlitten, den wir selber zogen, entlang der Ostküste von Angmassalik nach Norden ziehen. Vom äußerst nördlich erreichten Punkt wollten wir uns von einem Hubschrauber zurück zum Ausgangspunkt bringen lassen. Die Temperaturen sind zu dieser Zeit sehr tief. An vielen Tagen werden -30 Grad erreicht. Der andauernde Wind und die kurzen Tage mit nur fünf bis sechs Stunden Tageslicht erschweren sämtliche Unternehmungen. Mit dem Schlitten hatten wir bereits 1991 Erfahrung gesammelt. Diesmal hatten wir nur die nötigste Ausrüstung dabei. Kaum Kletterausrüstung. Wir mussten zugunsten unserer Trockenverpflegung Biosorbin Gewicht sparen. Alles musste ja von uns gezogen werden. Als wir die ersten Tage in Angmassalik unsere Ausrüstung zusammenstellten und auf unseren Heli-Flug zum Ausgangspunkt warteten, konnten wir ausgiebig unsere Freundschaften von 1991 pflegen. Kaum ein anderes Volk der Erde ist so freundlich und froh im Herzen wie die grönländischen Innuits. Sofort nahmen uns die hellen Häuser samt dem ausgelassenen Lachen ihrer Bewohner auf. Als das Wetter für unser Vorhaben geeignet schien, trennten wir uns schwer von den grönländischen Freunden. Ein Helikopter brachte uns ca. 40 km nördlich entlang der Ostküste ins Niemandsland. Kaum war der Hubschrauber verschwunden, änderte sich das Wetter. Tagelanger Schneefall zwang uns ein kleines Dorf an der Ostküste Grönlands anzusteuern. Nur unter großen Schwierigkeiten erreichten wir im Schneesturm durch hüfthohen Schnee das kleine Fischer- und Jägerdorf Tinit. Dort verbrachten wir 10 weitere Tage mit dem Ausschaufeln des kleinen hölzernen Schulgebäudes. Erst als ein Helikopter auf den zugefrorenen Fjörden im Sturm verschollene Jäger suchen musste, nutzten wir die Gelegenheit mit einem dieser Suchflüge unseren Ort zu verlassen. Bis zu unseren Abflug in die Heimat verbrachten wir weitere Tage im Schneesturm. Am letzten Abend vor unseren Abflug verzauberte uns die sternenklare Nacht des Nordens mit einem spektakulären Nordlicht. Der Himmel glühte in allen erdenklichen und unerdenklichen Farben und Formen. Ich erinnerte mich an Worte Fridjof Nansen’s, der einmal vom Fieber des Nordens sinngemäß schrieb: “Jeder der das Licht des Nordens gesehen hat, wird von einem Fieber erfasst, das ihn immer wieder in den hohen Norden zurückbringt”. In dieser Nacht spürten wir, dass uns unsere “unheilbare Krankheit”, das Nordfieber, ins “Kalaallit Nunaat, das Land der Menschen” zurückbringen wird.
1995: In diesem Jahr kehrten Sigi Girstmair und ich wieder nach Grönland zurück. Der Grund? Sigi hatte von einem Grönlander ein Foto von einer 1400 Meter hohen Granitwand erhalten. Geschossen wurde das Foto des “Traumzapfens” von einem grönländischen Fischer, der sich im Nörrearm, einem Seitenarm des berühmten ca. 80 km langen Lindenauer Fjörd vermutlich auf der Jagd “verirrte”. Schon seit 1993 beschäftigte uns dieses Foto.
Da unsere Grönlandbergfahrt 1993 aus Wettergründen bergsteigerisch etwas bescheiden ausfiel, bedurfte es keines großen Impulses, um angesichts dieses Fotos nochmals übergroße Begeisterung zu entwickeln. Wir vereinbarten, da wir ja unbedingt wieder zurückkehren wollten, diesen Granitgiganten zu versuchen. Als wir bei übermäßigem Rotweingenuss in Hochfilzen unserem Bergführerkollegen Kurt Radner aus Niederösterreich das Bild vom “Tommel” zeigten, war es um ihn geschehen. Kurt loderte, bei weiteren Gallonen Rotwein waren wir gedanklich bereits auf schwindelerregender (der Wein war sicher nicht die Schuld…) Bergfahrt. Recherchen ergaben, dass bereits Ende der 70-iger Jahre ein französisches Militärteam unter der Führung der “Groupe Haute Montagne” aus Chamonix sich in der NO-Wand des Tommelfinger versuchte. Diese bestiegen den Tommelfinger zuvor bereits über die Westwand. Ein Hubschrauber brachte das offensichtlich in Geld schwimmende Team anschließend an den Wandfuß der NO-Wand. Wetterpech vermasselte den Durchstieg. Während unserer Durchsteigung fanden wir lediglich ein kleines Materialdepot in ca. 700 m Wandhöhe. Da die Franzosen damals dachten wieder zurückzukehren, hinterließen sie so gut wie keine Infos in der alpinen Fachliteratur. Uns war also bei Planungsbeginn klar, dass es sich hier um eine Erstbegehung handeln würde. Keine Vorgänger, keine Information, keine Topos – rein gar nichts.
Alles Neuland. Eine richtige Expedition also. Dieser Begriff “Expedition” wird ja andauernd missbraucht. Robert Peroni sagte einmal, “Expedition” leitet sich vom lateinischen “expedire” ab, das soviel wie “hinausgehen und entdecken” heißt. Dies kann man aber nur dort, wo noch niemand war, also im Neuland. Bergfahrten von der Stange gebucht sind somit keine Expeditionen. Zum Leidwesen für jene unzähligen Ausflugs- und Wanderfahrer in die Weltberge, die unter dem Motto “Looking and Cooking” sich besonders einer abenteuerlich anmutenden Expeditionsfahrt zugehörig fühlen. Übrigens, niemand soll mir diesen emotionalen Wortausbruch zum Thema Expedition nachsehen, das mein’ ich nämlich so…!
Nun galt es so schnell wie möglich die Mannschaft zusammenzustellen. Wir entschieden uns auf Grund des gestellten Problems für eine Sechsermannschaft. Ein Mann der ersten Stunde war unser Bergführerkollege Jo Lugger. Jo war damals schon ein Meister im Fels und alpinen Gelände. Als ich ihm das Foto zeigte, schmunzelte er in seiner unverkennbaren Art so schelmisch, dass ich ohne Worte wusste – er lodert! Schnell war der Rest der Truppe ausgewählt. Sepp Delmarco aus Niederösterreich und der junge Gipfeler Christian “Grisu” Zenz komplettierten die Mannschaft. Nun soll aber Jo Lugger, der 1998 in Sardinien bei einem Abseilunfall ums Leben kam, erzählen. Gemeinsamkeiten verbinden, gemeinsam erlebte Abenteuer und die damit entstandene tiefe Verbundenheit, kann auch vom allzu frühen Tod unseres Jo nicht getrennt werden. In den Schlüssellängen der Tour und den bangen Stunden während der Begehung kam die bergsteigerische, aber vor allem die menschliche Brillanz von Jo voll zur Geltung.
Apostel Tommelfinger – Der Daumen des Apostels
von Jo Lugger
Die Berge Südgrönlands gehören zu den unberührtesten Gegenden der Welt. Am Rande des ewigen Eises warten noch unzählige Gipfel und riesige Wände, von den gewaltigen Gletschern geformt, auf ihre Erstbesteigung.
Eine ÖAV-Expedition mit dem Lienzer Sigi Girstmair, Christian “Grisu” Zenz aus Kötschach-Mauthen, Joachim Lugger aus Maria Luggau, Harry Riedl aus Innsbruck sowie den Niederösterreichern Radner Kurt und Delmarco Sepp hat diesen Sommer die 1400 Meter hohe Nordostwand des Apostel Tommelfinger erstbestiegen.
Langsam tuckert die Collo, ein kleines eistaugliches Ausflugsboot, dem Kap Farwell an der Südspitze Grönlands entgegen. Die weit ins Landesinnere reichenden Fjorde und die Eisberge, die bis zu fünfzig Meter aus dem Wasser ragen, bilden eine faszinierende Kulisse, vor der sich die Robben im Wasser und auf kleineren Eisschollen austoben. Plötzlich wird das vom Nordpol kommende Treibeis so dicht, dass wir uns ein Weiterkommen nicht mehr vorstellen können. Durch kleine Gassen zwischen den Eisbergen und Schollen findet Ole, der Kapitän, einen Weg zur Küste, wo er mit uns von einem Hügel aus den Weiterweg erkundet. Beim Anblick dieses bis zum Horizont reichenden Eisteppichs wird uns allerdings klar, dass diese Expedition zum Scheitern verurteilt ist, ehe sie noch richtig begonnen hat. Umso überraschter sind wir dann, als Ole unbeirrt weiterfährt, Eisschollen, weit größer als unser Schiff, zur Seite schiebt und sich die Collo wie ein kleiner Eisbrecher, der nicht einmal Goliath fürchtet, ihren Weg zum Lindenauerfjord bahnt.
Nach zwei Tagen Schiffsfahrt erreichen wir den Nörrearm, und sehen nun zum ersten Mal “unseren” Berg: den 2300 Meter hohen “Apostel Tommelfinger” mit seiner 1400 m hohen, fast durchwegs senkrechten NO-Wand, unserem Ziel. Nebelverhangen, dunkel und nass sieht die Wand aus; der Gletscher darunter ist so zerklüftet, alles in allem so abweisend, dass wir am liebsten wieder mit Ole zurück in die 240 km entfernte Zivilisation gefahren wären. Dieser kann ohnehin nicht verstehen, warum wir vier Wochen hier bleiben wollen und ehe er uns verlässt und damit unsere Verbindung zur Außenwelt abschneidet, macht er noch ein Foto, mit einem Gesichtsausdruck, als ob es das letzte von uns wäre. Kaum haben wir das Ufer betreten, werden wir schon von Millionen von Moskitos in allen Größen empfangen. Sie haben nur einen Monat zu leben und stechen alles nieder, was ihnen vor den Stachel kommt. Ohne Netze für das Gesicht und ohne Handschuhe wäre ein Aufenthalt hier wohl die Hölle. Das Basislager (wir haben es Moskito Base Camp getauft) liegt an der Küste, genau dort, wo der Gletscher ins Meer kalbt. Es ist ein gewaltiges Naturschauspiel, wenn bis zu dreißig Meter hohe Eistürme mit wildem Getöse ins Meer brechen und kleinere Eisberge entstehen lassen.
Sobald sich das Wetter bessert, erkunden wir den Zustieg zur NO-Wand des Apostel Tommelfingers. Der Gletscher ist so zerklüftet, dass wir einige Male am Bauch über zugeschneite Spalten robben müssen, um nicht einzubrechen. Erst später finden wir einen brauchbaren Weg über den Gletscher, wo man auch mit schweren Rucksäcken sicher die Wand erreichen kann. Etwa eine Stunde unter dem Wandfuß errichten wir auf einer Felsinsel im Gletscher ein zweites, kleines Lager, welches als Ausgangspunkt für die Wand dient. Sofort beginnen wir mit den Ferngläsern die Wand Meter für Meter zu erforschen, um eine kletterbare Linie durch diese zu finden. Zwei Linien erscheinen uns möglich: eine recht erfolgversprechende im rechten Wandteil und eine sehr kühne, die durch ein Risssystem ab dem ersten Wanddrittel pfeilgerade zum Gipfel zieht. Wir entscheiden uns für die direkte Route, obwohl dadurch die Chancen, die Wand zu durchsteigen, geringer werden: Ein 10 Meter überhängendes Dach ungefähr 200 Meter unter dem Ausstieg könnte diese Linie unmöglich machen. Wegen der Höhe der Wand und dem für Grönland typischen unbeständigen Wetter haben wir beschlossen, bis zur Wandmitte Seile zu fixieren. Diese ermöglichen es uns, bei Schlechtwetter schnell anzuseilen und sobald sich das Wetter wieder bessert, mit Steigklemmen an den Seilen hochzusteigen. So muss nach einem Schlechtwettereinbruch nicht noch einmal die ganze Wand geklettert werden. Die ersten 400 Meter bieten schöne Kletterei im 4. und 5. Schwierigkeitsgrad, gewürzt mit einigen knackigen 6er-Stellen. Die Kamine verwandeln sich am Vormittag, wenn die Sonne den Schnee auf den Eisfeldern schmilzt, in Wasserfälle. Aber da muss man durch, da hilft nichts. Auch die beste Ausrüstung verhindert nicht, dass man bis auf die Haut nass wird. Am Abend seilen wir uns an den fixierten Seilen ab. Die nächsten zwei Tage werden weitere Seillängen hinzugefügt und mit Fixseilen versehen. Die Wand ist nun fast senkrecht, der Fels wird aber zunehmend brösliger und brüchiger, was uns zwingt, viele Stellen technisch zu überwinden. Als wir um vier Uhr des nächsten Tages aus dem Zelt schauen nieselt es leicht. So verlassen wir unser Lager erst um acht Uhr, als sich das Wetter bessert. Was wir nun sehen, lässt uns das Blut in den Adern erstarren: Eine riesige Eislawine ist am Morgen über den linken, 1000 Meter hohen Wandteil heruntergedonnert und hat unseren Zustieg teils meterhoch mit Schnee und Eis bedeckt. Sogar Felsen, die fast zwei Kilometer vom Wandfuß entfernt sind, sind noch vom Eisstaub der Lawine nass. Wären wir früher losgegangen…, man darf über solche Ereignisse nicht zuviel nachdenken! An diesem Tag gelingen uns noch drei sehr schwierige Seillängen, ehe uns ein heftiger Schneesturm aus der Wand vertreibt.
Die nächste Woche verbringen wir im Basislager: die Wand ist voll Schnee, das Wetter schlecht. Wir vertreiben uns die Zeit mit erfolglosem Fischen, Kochen und Essen. Wir haben die aufgezwungene Kletterpause auch dringend notwendig. Als sich das Wetter bessert, steigen Sepp und Kurt über die Seile zum Umkehrpunkt auf und hängen dort die Portaledge hin. Das ist im Prinzip ein aufhängbares Bett mit einem Zelt darüber. Man kann darin auch in einer senkrechten Wand “gemütlich” schlafen. Am nächsten Tag folgen auch “Grisu” und ich und biwakieren einige Seillängen über der Portaledge auf einem kleinen Absatz. Es folgen einige sehr schwierige Seillängen im siebten Grad unter das große Dach. Wir merken nicht, dass es in der Zwischenzeit zu regnen begonnen hat, denn dichter Nebel hat uns schon länger eingehüllt. Bei Dunkelwerden findet Kurt eine Möglichkeit, das Dach, das vorher so viele Fragen aufgeworfen hat, zu überwinden. Im Schneeregen erreichen wir einen kleinen schneegefüllten Absatz, wo wir uns sofort, total durchnässt, in die Biwaksäcke verziehen und eine harte Nacht verbringen. Am Morgen regnet es immer noch und uns bleibt nichts übrig, als enttäuscht knapp unter dem Gipfel den Rückzug anzutreten. Wir sind uns sicher, nicht noch einmal in diese Wand einzusteigen. Aber im gemütlichen Moskito Base Camp vergisst man solche unangenehmen Biwaks zum Glück sehr schnell. Die nächste Woche ist das Wetter wieder grönländisch: Regen und Schnee. Die Zeit wird auch schon langsam knapp, denn das Schiff holt uns in etwas mehr als einer Woche ab. Wir würden für die Kletterei zum Gipfel jedoch drei Tage brauchen und zwei weitere zum Abseilen. Beim ersten Anzeichen auf eine Wetterbesserung starten wir erneut, diesmal in zwei Dreierseilschaften. Nach einem Biwak in der Wand erreichen wir bereits am Morgen des zweiten Tages unseren letzten Umkehrpunkt. Die letzten 7 Seillängen fordern noch einmal alles von uns ab: schwierige technische Kletterei an oft vereisten und überhängenden Rissen, eiskalte Luft, dafür aber schönes Wetter. Über das Gipfeleisfeld erreichen wir alle sechs am Abend den Gipfel. Ein Traum wird wahr. Rund um uns liegt eine gigantische Gebirgslandschaft, hunderte von noch unbestiegenen Gipfeln, durchsetzt mit grünen Fjorden. Im Norden sieht man das Inlandeis, das 2300 km weit bis zur Nordspitze Grönlands reicht. Unter uns liegen 40 Seillängen, davon mehr als 30 im 6. und 7. Schwierigkeitsgrad, die in fast direkter Linie zum Gipfel ziehen. Wir bleiben lange am Gipfel, da wir beim Abseilen und Abbauen der Fixseile ohnehin biwakieren müssen. In dieser Nacht sehen wir zum ersten Mal das Nordlicht am Himmel, ein gigantisches Farbenspiel, das jede Lasershow in den Schatten stellt. Während die Augen dem rasch wechselnden Lichtspektakel am Himmel folgen, sind die Gedanken bei unserer Tour: wir taufen sie “Tupilak”. Das sind die guten oder bösen Geister Grönlands. Hier am “Apostel Tommelfinger” gibt es heute, glaube ich, nur gute Tupilaks.
Infos:
Gebiet: Südostgrönland, Kap Farwell-Region (Südspitze Grönlands).
Anreise: Mit Linienflug von Kopenhagen nach Narsarsuaq und von dort mit Helikopter oder Boot in 2 Tagen nach Nanortalik.
Ausgangspunkt: Nanortalik in Südgrönland. Von dort in ca. zweitägiger Schiffsreise in den Lindenauer-Fjord. Boot muss in Nanortalik rechtzeitig gechartert werden. In Nanortalik besteht Übernachtungsmöglichkeit in einer Selbstversorgerhütte.
Weitere Klettergebiete: Tasermiut-Fjord mit Ketil und Ullermatorsuaq (Suikarsuak) sowie die gesamt Kap Farwell-Region.
Infos zur Route: “Apostel Tommelfinger”, 2.300 Meter, Nordostwand “Tupilak”, VII/A2, 40 Seillängen, Wandhöhe 1.400 Meter, Kletterlänge 1.800 Meter.
Notwendiges Material: Alle Standplätze zumindest mit einem Bohrhaken eingerichtet, alle Haken belassen, 55m-Seile, große Friends wegen einiger OFF WITH-Längen (Camelot 4er, 5er), Big Wall-Ausrüstung, Eisausrüstung.
Abstieg: Abseilen über die Route.
Zeit für Wiederholer: 3 bis 5 Tage.
Der Windmühlenritter
von Robert Renzler
Für Kurt und Heidrun: In Dankbarkeit an ersteren, der mich an so vielen Stunden intensivsten Lebens teilhaben ließ. In Bewunderung für die zweitere, die mit schier übermenschlicher Geduld und Verständnis die langen Zeiten der Rekonvaleszenz und das nachfolgende wilde Treiben mittrug.
Prolog: Solange man sich über eine brüchige Wandstelle nach oben rauft oder die messerscharfe Pickelhaue in morsches Eis setzt mit einem verstohlenen Blick nach unten auf die letzte, weit unterhalb angebrachte Sicherung, die zumindest einen längeren Krankenhausaufenthalt signalisiert, verbietet die Unerbittlichkeit der Situation und das totale Aufgehen in das Hier und Jetzt jeden Zugang zum Großhirnlappen, der üblicherweise zum erzählerischen Festhalten solcher Momente benutzt wird. Nein, die Geschichten über die Helden der Abgründe entstehen zu ganz anderen Stunden. Wenn nach einem harten und langen Klettertag die Akteure ums Lagerfeuer sitzen und unter den in Kletterkreisen nicht selten anzutreffenden Restbeständen der 68er und Hippiegeneration ein Joint verstohlen die Runde macht oder wenn sich auf einer verwitterten Holzveranda einer Berghütte das milde Licht der Abendsonne auf die im Holz ähnelnden Züge der kletternden Spezies legt und die sich widerstrebend auflösenden Wolkenfetzen des nachmittäglichen Hochsommergewitters, gegen das gerade beim Abstieg im Laufschritt ein klarer Punktesieg erzielt wurde, die Wandfluchten umspielen – den Joint ersetzt bei einem derartigen Szenario ein meist säuerlicher Rotwein – dann kommt die Stunde des Erzählens. Gerade Erlebtes vermischt sich mit weiter Zurückliegendem, Eigenerlebnisse wechseln ab mit “Second-Hand-Geschichten”, deren historischen Kern sozusagen man nicht selbst miterlebte, aber über die man mittlerweile mindestens ebenso gut Bescheid weiß, wie der Betroffene selbst. Die Entstehungsprozesse solcher Mythen im Kleinformat gleichen wohl jenen, die an der Wiege der abendländischen Dichtkunst standen, als die Hirten an den nächtlichen Lagerfeuern Griechenlands die Heldensagen von der Eroberung Trojas von Generation zu Generation weitergaben. Erst ein begnadeter blinder Dichter setzte diesem der Willkür des Erzählenden überlassenen Treiben ein Ende hielt die letztgültige Version ein für allemal unverrückbar fest. Nachdem die Protagonisten der Bergsteigergeschichten und deren kühne Taten, sollten sie nicht rechtzeitig schriftlich festgehalten werden, möglicherweise derart an Größe und Wildheit zunehmen könnten, dass sie gar das Format ihrer antiken Vorbilder erreichen, muss die, gemessen am homerischen Vorbild ohne Zweifel stümperhafte Arbeit der bergsteigenden Schreiberlinge, dennoch als segensreiche und notwendige beurteilt werden. Notwendig, weil ansonsten noch Reinhold der Große oder Jerzy, der Kühne, Hektor und Achill aus dem Olymp verdrängen, segensreich, weil die unter dem Diktat der modernen Unterhaltungsindustrie uniform gewordenen Welt diese anachronistischen Randerscheinungen unwiderruflich aus dem kollektiven Bewusstsein löschen würde. Und von solch einem Helden, der auszog im Kampf mit den Abgründen das Fürchten und wohl auch ein wenig das Fliegen zu lernen, handelt unsere Geschichte.
Das Kennenlernen: Als der Autor den Hauptdarsteller kennenlernte, umgab diesen bereits eine Aura der Wildheit. Er galt im deutschsprachigen Raum als der Bergsteiger mit den meisten recht oder schlecht überstandenen Flugmetern, ein deutscher Joe Simpson gewissermaßen. Für die jungen Leser sei bemerkt, dass zu jenem Zeitpunkt das Sportklettern gerade in den Anfangsschuhen steckte und Flugmeter ausschließlich im alpinen Gelände mit den dort vorherrschenden zweifelhaften Sicherungen gezählt wurden. Ich war gerade auf der Suche nach einem Kletterpartner und ein Freund hatte mir auf einem Zettel die Telefonnummer von einem gewissen Dr. Kurt Schoisswohl notiert. Ich solle anrufen, jener Besagte hätte zumindest in den schulfreien Perioden immer Zeit und was zumindest ebenso wichtig ist, auch immer den nötigen Auftrieb. Ich rief abends an und als ich ihn mit “Dr. Schoisswohl” anredete, knurrte er irgendetwas von “Du Trottel, i bin der Gaga”, womit alles klar war. Tags darauf schon saß er neben mir ein meinem alten Opel Kadett und wir krochen in einem nicht enden wollenden Wurm aus Autos das Grödental hinauf. Wir hatten uns mit Südtirolern um 10 Uhr am Sellajoch verabredet, um zu viert die Comici-Führe auf den Torre Salami auf der Langkofel Nordseite zu machen. Wieder einmal ging gar nichts mehr und wir standen mehr als zehn Minuten etwa hundert Meter vor einer scharfen Linskurve, in der gerade ein großer Bus, vollgestopft mit deutschen Urlaubern, zum Stehen gekommen war. Plötzlich schoss Gaga aus dem Auto, sprintete nach vorn zum Bus, zog sich mit einem Klimmzug am offenen Seitenfenster des Fahrers hoch und steckte drohend seine geballte Faust ins Wageninnere. Nach kurzer Zeit setzte er sich verschmitzt lächelnd wieder neben mich und erklärte, dass er dem “Büffel” da vorn gesagte habe, dass er sofort weiterfahren solle, ansonsten würde er ihm einen “Hoggn” (in der Boxersprache ist dies ein Uppercut) verpassen. Erst danach hatte er bemerkt, dass der Busfahrer gar nichts dafür konnte, weil die Autokolonne noch mindestens einen Kilometer weiter reichte. Auf jeden Fall imponierte mir seine Spontaneität, die von seinem martialischen Aussehen unterstrichen wurde. Zu dieser Zeit trug Gaga schulterlanges Haar und einen wilden Vollbart nach dem Vorbild des alten Brentakämpen, Bruno Detassis, in dem sich zu Zeiten langer Schönwetterperioden der Speiseplan über Tage hinweg rudimentär widerspiegelte. Der Rest des Tages wurde auf Grund des späten Starts im Laufschritt absolviert, schließlich wollten wir ja noch am Abend auf die Falierhütte unter die Marmolada Südwand aufsteigen. Lediglich die erste Seillänge des direkten Einstiegs zu unserer Tour hielt uns etwas auf. Gaga hatte mit entwaffnender Selbstverständlichkeit den Vorstieg übernommen und war in etwa 17 m Höhe bei einer leicht überhängenden Wandstelle ins Stocken geraten. Der erste und einzige Sicherungshaken steckte 6 Meter unter ihm in einem Felsloch und nach kurzem Probieren entschied er sich für den Rückzug. Beim Abklettern erzählte er mir, dass dies die erste richtige Klettertour seit gut einem Jahr sei und er zum Auftakt nicht zuviel riskieren wolle. Beim letzten Pfingstausflug des legendären Innsbrucker Kletterclubs “Gipfelstürmer” in die Tschechoslowakei rollte ihm beim Piazen auf dem durch tagelanges feuchtes Wetter aufgeweichten Sandstein buchstäblich der Fels unter den Füßen weg, Gaga tauchte an die 15 Meter ab und zertrümmerte sich die Kniescheibe beim Anprall an die Wand. Die Erstversorgung in einem Regionalkrankenhaus von zentralafrikanischem Standard – schließlich hielt zu dieser Zeit noch Brüderchen Moskau seine westlichen Anrainerstaaten im eisernen Würgegriff – erwies sich als denkbar schlecht und nach zwei Tagen wurde er in einer Blitzaktion von seinen Freunden in einem kleinen PKW nach Innsbruck ins Spital gebracht, wo der später weltberühmt gewordene Transplantationschirurg Dr. Margreiter, ebenfalls der Gilde der “Gipfelstürmer” zugehörig und immer wieder für derartige Aktionen missbraucht, alles für eine rasche Operation vorbereitet hatte. Das Knie war bereits brandig geworden und Gaga an einer Amputation knapp vorbeigeschrammt. Dass am selben Tag der damalige Jungstar Reinhard Schiestl nur wenige Minuten nach Gaga den Wochenendrekord im Miles and More-Vielfliegerprogramm des Vereines mit einem Dreißigmetersturz deutlich überbot, zeigt welchen Geistes unsere Helden damals waren. Die Logik, die dahinterstand, war von schlagender Einfachheit und deshalb kaum zu widerlegen. “Wenn nit einmal im Jahr ordentlich fliegst, dann bist halt a nit schwer geklettert”, lautete sie in Gagas Worten. Mir war jedenfalls sofort klar, dass ich die Stelle schaffen musste, um in diesen erlauchten Kreisen anerkannt zu werden, was mir auch mittels eines kleinen Stoppers, den ich in Ermangelung eines Risses zwischen zwei Felswarzen klemmte, und einer Brandschlinge als Steighilfe gelang. Der Rest des Wochenendes blieb reine Routine: Zu- und Abstiege im Laufschritt, Klettern wie beim Speedfinale auf der Krim mit dem Ziel, in den knapp bemessenen Marschtabellen genügend Zeit zu finden, um sich den Bauch vollschlagen und vor allem die Flüssigkeitsspeicher mit Rotwein wieder auf “voll” zu stellen. Mit dieser ausgeklügelten Taktik gelang es uns, ohne Rasttage Touren wie den Tofana-Pfeiler, die Solleder am Sass Maor, die Cassin am Torre Trieste, die Biasin am Sass Maor und schließlich noch die Nordkante des Agner aneinander zu reihen, wobei der Vorschlag zur letztgenannten Route um ein Uhr nachts an der Bar im Cant del Gal zu Füßen des Sass Maor von unserem Dritten im Bunde, Robert Troier, entwickelt wurde. Nach dem zustimmenden Applaus unsererseits bestellte Robert, der für seine legendäre Kondition bei den diversen alpinen Skiaufstiegsrennen – er schien bereits in den Siegerlisten der meisten auf – aber auch für seine fast überirdische Trinkfestigkeit bekannt war, noch eine Runde und so schafften wir nach knapp 3 Std. Schlaf in exakt viereinhalb Stunden die 1.600 Meter lange Route inkl. des Zustiegs. Das mitgenommene 9 mm Seil wurde nur für zwei Seillängen im obersten Kantendrittel aus dem Rucksack genommen.
Der Mittelpfeiler: Gaga bezeichnete später solche Touren etwas despektierlich als “alpinen Semmel”, weil sich für seinen Geschmack in der körpereigenen Chemie speziell mit Blickrichtung auf das Adrenalin zu wenig rührte. Da lobte er sich Erlebnisse wie bei unserer frühen Wiederholung des sagenumwobenen Mittelpfeilers am Kreuzkofel, der wohl schwersten Klettertour Reinhold Messners. Nach dem brüchigen Vorbau, bei dem Gaga einige Steine größeren Kalibers, die Kühe und Touristen rund ums Hospiz erschauern ließen, abtrat, führte ich den Quergang zu einem ungemein ausgesetzten Stand vor der Schlüsselseillänge. Wild entschlossen die Länge frei zu machen, kletterte er los. Schon die ersten Züge waren kompliziert und schwer und nur von zwei extrakurzen Spezialhaken abgesichert. Jenes Schicksal, das schon bei den eingangs zitierten griechischen Helden eine große Rolle spielte und welches auch über die Helden der Abgründe waltet, befand, dass der nächste Griff ausbrechen solle und prompt hing Gaga 5 Meter tiefer in jenem besagten Spezialhaken, der verdächtig vibrierte. Mit Blick auf die zwei Standhaken, in die ich eingebunden war und deren Qualität mir zunehmend verkehrt proportional zur Exponiertheit meiner Umgebung vorkam, schlug ich schüchtern vor, er solle mir den Vortritt überlassen, was ein ablehnendes Knurren zur Folge hatte. Wiederum ohne Hakenhilfe startete er seinen zweiten Versuch. Diesmal gings ohne Probleme ungefähr 10 Meter nach oben und weitere 10 Meter über einen Rechtsquergang zur berühmten Umgehungsstelle der Messnerischen Originalführe, die im Jahr zuvor von Heinz Mariacher entdeckt worden war. Hier geriet der zügige Vorstoß erneut ins Stocken und nach langem zentimeterweisen Auf und Ab des Seiles schrie Gaga mir zu, dass er doch diesen verdammten Haken nehmen müsse, um im gleichen Augenblick mit demselben in der Hand 15 Meter tiefer frei hängend über dem Abgrund zu baumeln. Fast eine halbe Stunde benötigte er zum Aufprusiken, da ihm nur seine Hammerschnur dafür zur Verfügung stand. Die Reepschnüre lagen zwecks Materialschonung wohlverwahrt im Kofferraum des Autos. Wieder an derselben Stelle angekommen, schlug er den ausgebrochenen Haken ins selbe unzuverlässige, taube Loch und kletterte auf Anhieb die Stelle frei. Ich selbst musste in den folgenden zwei Längen vom Privileg des Führens Abstand nehmen. Zu sehr hatten seine Demonstrationen über die Auswirkungen der Schwerkraft meine Moral untergraben.
Führerepisoden: Legendär waren nicht nur Gagas Ambitionen es Ikarus gleich zu tun, sondern auch seine unkonventionellen Methoden als Bergführer. Immer wieder wurden ihm von wohlmeinenden Kollegen schwierige Gäste, vornehmlich weiblichen Geschlechts, zugeteilt. Immerhin galt er als Dottore der Mathematik und als Liebhaber Bachs himmlischer Musik als der Intellektuelle der Zunft. Krankenschwestern, die sich aus unerfindlichen Gründen plötzlich weigerten weiterzugehen oder auf dem Gletscher das Seil zum Sichern in die Hand zu nehmen, wurden zu Konventionalstrafen verdonnert, die so ausfielen, dass bei schönstem Wetter ein “Besinnungstag” auf der spartanischen Hütte zu verbringen war, während der Meister mit einer auf der sozialen Leiter höhergestellten und vermutlich auch von der Natur besser bedachten Ärztin die Droites-Überschreitung machte.
Holländer, die in jenen Tagen meist von einem königlichen Verein entsandt wurden und für ihre Sparsamkeit, speziell wenn es darum ging dem Führer eine Halbe Wein zu zahlen, bekannt waren, fungierten des Öfteren als Testobjekte, um Gagas innovative Führungsmethoden umzusetzen. Mit mehreren Gästen ein steiles Westalpencouloir unter dem üblichen Zeitdruck abzusteigen gehört zu den Herausforderungen des klassischen Führens. Teamarbeit ist nicht nur ein meist als Phrase gebrauchtes Schlagwort moderner Managementmethoden, sonder war damals schon der Kern von Gagas Überlegungen. Man traf sich nach einem ausgeklügelten Zeitplan mit zwei weiteren Kollegen und deren Gruppen auf der Scharte, in die üblicherweise so ein Couloir mündet. Dort wurden die Gäste, zwei pro Führer, also insgesamt sechs an der Zahl ans Ende eines der Seile gebunden. Vorsorglich wurden ihnen die Steigeisen ausgezogen, da diese erstens bei Ungeübten häufig Quelle von mannigfachen Verletzungen sind und zweitens für einen wirklich schnellen Abstieg sich als ungeeignet erweisen. Dann wurde eine solide Verankerung aufgebaut, die drei Führerseile aneinander geknüpft und schließlich dem zuunterst befindlichen Gast mit sanfter, doch bestimmter Gewalt die Füße vom Boden geschlagen, sodass er ins Rutschen kam und seine Leidensgefährten mitriss. Alles Weitere war Routine: ein Führer bediente die doppelte Karabinerbremse, der Zweite warf Schnee zur Kühlung auf die rauchenden Handschuhe seines Kollegen und der Dritte kletterte bereits nach unten, um den nächsten Stand vorzubereiten. So wurden hunderte Meter lange Steilabstiege in einem Bruchteil der üblichen Zeit bewältigt, was schließlich bei der Ungewissheit des Wetters in den Alpen zur Erhöhung der Sicherheit beisteuert.
Sicherheit verträgt sich eigentlich nicht mit der Essenz des Bergsteigens, die in Abgründe weist und nicht wie gemeinhin angenommen in lichte Höhen. Allenfalls von kalkuliertem Risiko sei in diesem Zusammenhang zu sprechen, postulierte unser Held und lebte danach. Trotzdem die Kalkulation ja geradezu zu seinem Beruf als Mathematiker gehörte, bediente er sich beim Bergsteigen dieser nicht als exakte Wissenschaft, sondern eher im Annäherungsverfahren. So entwickelte er auch beim schwierigen Felsklettern mit Gästen eine einfache Methode sich selber zu sichern, indem er blitzartig ins Seil griff, sobald dieses über einen Haken umgelenkt wurde. So konnte er z.B. einen Sturz in der Via Italia am Piz Ciavazes halten, ohne dass der Gast überhaupt etwas mitbekam.
Das Fehlen von Haken und das Unvermögen seines Gastes, mit den damaligen Sicherungsmethoden einen Sturz zu halten, führte schließlich zu seinem persönlichen und auch in den alpinen Annalen nur selten bezeugten Rekordsturz von annähernd 70 Metern in der Dülferführe an der Totenkirchl Westwand. Ein Schädelringbruch und zahllose weitere Blessuren waren die Folge dieses Entlangschrammens an der Grenze, die uns Lebenden von den Toten trennt. Sein Gast, eine Frau, hatte fürchterliche Verbrennungen an den Händen erlitten und beide zusammen mussten erst noch eine Nacht biwakieren, ehe sie von der Bergrettung ins Tal gebracht wurden. Dass beide noch heute, fast 30 Jahre danach leidenschaftlich gern klettern, wirft ein bezeichnendes Licht in die verschlungene Seelenwelt der Bergsteiger extremerer Richtung.
Von Drachen und Zähnen: Jeder Held wird zu einem solchen erst durch seine persönliche Schwachstelle. Bei Achill war es die Ferse, bei Siegfried das Blatt am Rücken und bei Gaga war es der linke Vorderzahn. Dieser hatte bereits in jungen Jahren, als Gaga noch seine Studienjahre genoss, das Zeitliche gesegnet. Allerdings nicht durch schnöde Karies, sondern stilgerecht in Folge einer ruhmvollen Schlägerei. Vorangegangen war eine Stänkerei im Cafe Mundig in der Innsbrucker Altstadt, bei der einige Ohrfeigen ausgetauscht wurden. Als sich das Geschehen wieder beruhigt hatte und unser Freund mit seinem Kumpanen Bulle (seines Zeichens heutiger Klinikvorstand in Zürich und weltbekannter Bergsteiger und “Gipfelstürmer”) das Lokal verließ, ergab ein wundersames Geschick, dass ebendort neben der Eingangstür ein Porsche parkte, dessen Seitenfenster halb heruntergelassen waren. Dieses aufsehenerregende Gefährt war damals das einzige seiner Art in Innsbruck und gehörte den unguten Zeitgenossen, mit denen Bulle und Gaga gerade Schwierigkeiten gehabt hatten. Als unser Hauptdarsteller dies sah, überkam ihn urplötzlich der Drang, seine durch zahllose Biere überlasteten Nieren zu erleichtern und verrichtete seine Notdurft ins Wageninnere, was durch die benutzerfreundliche Bauhöhe dieser Automarke ungemein erleichtert wurde. Just in diesem Augenblick kamen die Wagenbesitzer, stadtbekannte Zuhälter, ums Eck und über die folgende Keilerei kann der interessierte Leser in den Gerichtsakten nachblättern.
Da nun ein jugendlicher Held mit Zahnlücke selbst vor dem Hintergrund größter Ruhmestaten sich einer gewissen Lächerlichkeit preisgibt, besaß Gaga in der Folgezeit verschiedene Zahnersätze, die nicht selten Anlass zur Heiterkeit gaben. Einmal wurden sie bei der Morgentoilette an einem Bächlein unter der Pordoi-Nordwand von besorgten Kollegen in Verwahrung genommen, auf dass sie der Wildbach nicht wegspüle, ein anderes Mal wurden die Dinger wirklich verlegt, was in beiden Fällen Gaga zum wutschnaubenden Berserker werden und seine Partner unter den wüsten Drohungen erzittern ließ. Viele Jahre später leistete er sich ein sündteures Implantat, welches sich gerade eine Woche an seine neue Umgebung gewöhnen konnte, als es zu Pfingsten in die Calanques ging. Mein Freund war mit dem Training fürchterlich im Rückstand, hatte er doch erst fast zeitgleich mit dem Erwerb seines neuen Zahnes ein drei Monate lang in Folge einer abgerissenen Schulteransatzsehne getragenes Gipskorsett abgelegt. Das Meer war blau wie immer, die Stimmung, dem französichen Ambiente entsprechend, formidable und Gaga stieg brav die ganze Zeit als Seilzweiter nach, mit einem Wort alles war in Butter bis zur letzten Tour vor der Heimreise. Wir hatten uns die “Specialboucherie”, eine gefinkelte Plattenkletterei im oberen siebten Schwierigkeitsgrad hoch über der malerischen Bucht gelegen, zum Abschied auserkoren. Am Einstieg angekommen – ich hatte es bereits geahnt – wollte mein Freund ans scharfe Ende des Seils und nichts in der Welt konnte ihn davon abhalten. Also kämpfte er sich etwas weniger elegant als gewohnt 15 Meter hinauf, bis er den vorletzten Sicherungshaken dieser Route in Augenhöhe hatte. Verzweifelt müde und bereits vom berüchtigten Kniezittern befallen, hängte er eine Expressschlinge ein, schaffte es allerdings nicht mehr, das Seil, welches er bereits nachgezogen hatte und mit den Zähnen festhielt, in den Karabiner zu klinken. Sich mit einem raschen Griff zur Schlinge aus dieser Situation zu retten, kam für ihn nicht in Frage. Dies hätte einen eklatanten Bruch der “Rotpunktideologie” bedeutet, der wir damals als fanatische Jünger huldigten. So stürzte er wenig überraschend für mich, der ich dieses titanische Ringen beobachtet hatte, etwa 8 Meter ins Seil und hinter ihm, wie dicke Tautropfen aus dem hellen Streiflicht der gerade hinter dem Horizont abtauchenden Sonne, vier oder fünf Pünktchen undefinierbaren Substrats. Meine erste Vermutung, es handle sich um den Inhalt seines Magnesiumbeutels, erwies sich als falsch. Es waren tatsächlich seine Zähne gewesen, die ihm beim Straffen des Seils ausgerissen worden waren. Dass sich darunter auch der ebenso neue wie teure Kunstzahn befand, muss unserem Freund als besondere Ironie des Schicksals vorgekommen sein, als er sich nur zwei Tage später im Zug nach Wien befand, wo er im Ministerium Bericht zu erstatten hatte über die Vorbereitungen zur Mathematik-Olympiade, deren Organisation zu seinen Aufgaben zählte.
Nun wird der wachsame Leser bemerkt haben, dass Gaga in den Monaten vorher ein martialisches Gipskorsett geziert hatte. Und eben dieses hatte bei einer vorangegangen Sitzung im ehrwürdigen Amt schon erhebliche Aufmerksamkeit hervorgerufen. Als er nun aber zwar ohne Korsett, aber mit gänzlich ramponierter Mundpartie erschien, hegten die honorigen Ministerialräte dort nicht ganz unberechtigt die Vermutung, dass mit diesem Tirolger Urgestein nicht gut Kirschen zu essen sei, welcher Umstand in der prägnanten Sprache Gagas folgendermaßen beschrieben wurde: “Ein bissl blöd g’schaut habens schon”.
Von Leben und Tod:
Jetzo erst gehst du deinen Weg der Größe!
Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen! … Jetzt muss das Mildeste an dir noch zum Härtesten werden. Wer sich stets viel geschont hat, der kränkelt zuletzt noch an seiner vielen Schonung. Gelobt sei, was hart macht!
Friedrich Nietzsche
Helden werden zu solchen erst durch ein gewisses Maß an Tragik. Unverwundbare und, um zu unseren griechischen Vorbildern zurückzukommen, wie im Fall Herakles, sogar unsterbliche Helden enden in Langeweile. Größe erwächst aus dem Staub. Und solchen musste der Protagonist unserer Geschichte wahrlich oft schlucken. Mir ist jedenfalls in der Alpingeschichte kein zweiter, außer dem bereits erwähnten Joe Simpson vielleicht, bekannt, der so oft um Haaresbreite dem Tod entgangen ist, der sämtliche Knochen und Bänder seines Körpers zerschlagen hatte und trotzdem unbeirrbar seinen Weg in die Berge ging. Am Rande bemerkt: auch ein gewisses Maß an Sturheit ist ein unverzichtbares Merkmal derer, die sich von uns gewöhnlich Sterblichen unterscheiden.
Nur einmal sah ich Gaga in den zwei Jahrzehnten unserer Freundschaft zweifeln. Drei Tage nach seinem 50sten Geburtstag feierten wir standesgemäß wie immer bei derartigen Anlässen, sozusagen als Nachlese, mit einer spätherbstlichen Begehung der Schubert-Führe am Piz Ciavazes im kleinen Kreis. Wenige Seillängen unter dem Hochplateau, auf dem dieser Kletterweg endet, brach Gaga ein mannsgroßer Felsblock aus und er stürzte zusammen mit diesem wenige Zentimeter neben meiner Schulter auf eine Felsschuppe bei unserem Standplatz. Trotz der relativ geringen Sturzhöhe von 8 Metern waren die Folgen verheerend. “Offener Mittelfußbruch rechts, mehrfach gebrochener Oberschenkel links, zerschmetterter, völlig aus der Normalposition gewinkelter Unterarm rechts und schließlich ein 20 cm langer Schnitt am rechten Oberschenkel, der zum Knie hin bis auf die Knochen reicht”, so lautete meine gedankliche Diagnose. Nach der Erstversorgung, die sämtliches vorhandene Verbandsmaterial inklusive eines T-Shirts aufbrauchte, mussten wir unseren Freund auf den Rücken eines Bergretters binden, der sich zu uns abgeseilt hatte und beide zusammen in der einbrechenden Dunkelheit 200 Meter bis zu einem großen Band in Wandmitte behelfsmäßig ablassen. Ich höre heute noch seine Schreie aus dem leichten Schneetreiben, das zu allem Überfluss eingesetzt hatte, wenn sie bei ihrer schaurigen Fahrt in die Tiefe an die Felsen streiften. Am nächsten Tag rief ich in der Innsbrucker Klinik an und der Arzt bestätigte meine laienhafte Erstdiagnose. Allerdings sprach er noch von einer mehrfach gebrochenen Kniescheibe, zu deren Behandlung sie noch gar nicht gekommen seien. Als ich ihm erklärte, dass diese Narben im Röntgenbild möglicherweise von einem Unfall in der Tschechoslowakei herführten, was sich später auch als richtig erwies, sagte er fast entschuldigend, dass er sich ein so von alten und neuen Rissen durchzogenes Röntgenbild eigentlich nur bei einem Veteran der französischen Fremdenlegion vorstellen könne. Fünf Monate verbrachte Gaga in der Klinik und in den ersten Wochen zweifelte er an der Fortsetzung seiner alpinen Karriere, wobei er allerdings schon die Einschränkung machte, Sportklettern gehe auf jeden Fall wieder.
Legendär waren nicht nur seine Fähigkeiten, Schmerzen und Verletzungen wegzustecken und wie eine Katze mit ihren berühmten 7 Leben wieder zu heilen, sondern auch sein Überlebensinstinkt. Diesen stellte er mehrfach unter Beweis, als er etwa mit einer Wechte am Grat des Hafelekars 100 Meter über steilste Felsschrofen in die Tiefe stürzte und anschließend noch 200 Meter auf einer Lawine weiter ritt. Nachdem Gaga sich wie ein aus einem See springender Hund abgebeutelt hatte, führte ihn sein Schritt nicht zum nahe gelegenen Restaurant der Seilbahnstation, sondern – der gewiefte Leser wird es bereits ahnen – wieder geradewegs nach oben.
Ein anderes Mal bei einer Skitour zum Hohen Beil im Pfitschertal spurte er den fast 40 Grad steilen Gipfelhang. Seine beiden Gefährten, von bösen Vorahnungen geplagt, hatten sich und die Skier am Fuße des Hanges außerhalb der Schusslinie gebracht und beobachteten das Geschehen. Nur fünf Meter vom rettenden, sonnenüberfluteten Grat entfernt, brach der Hang und unser Held fuhr in einem Höllentempo zwar nicht in den schattenerfüllten Hades, aber dennoch an seinen Freunden vorbei in die Tiefe. Ein gütiges Geschick hatte am unteren Ende des Hanges einen einsamen Felsblock hingestellt, den Gaga mit einem verzweifelten Sprung anhechtete und sich daran festklammerte, bis das Rauschen unter seinem Körper zu einem leisen Schneerieseln verebbte. Wer diese Skitour kennt, weiß, dass kurz unterhalb dieser Hang in haltlose Plattenschüsse abbricht, was der Autor dieser Zeilen anzufügen sich nicht verkneifen konnte, da es einerseits der theatralischen Spannungserhöhung dient und andererseits wegen der einfachen Überprüfbarkeit vor Ort auch nicht den Geruch maßloser Übertreibung mit sich trägt.
Schließlich blieb auch die Nordwand des Eiger von Gagas Eskapaden nicht verschont. Zu viert kletterte man hurtig und seilfrei über die brüchigen Felsen des “Zerschrundenen Pfeilers” im unteren Teil der Wand. Etwa 600 Meter über den viel zitierten “grünen Matten von Alpiglen”, wo Aspiranten für diese berühmte Tour damals zu kampieren pflegten, brach wieder einmal ein Block unter Gagas eisernem Griff weg. Reflexartig konnte er diesen an seiner linken Schulter vorbei schaufeln, tauchte nach rechts unten, ein halbes Rad schlagend, ab und landete fast 4 Meter tiefer auf einem Podest, wo ihn ein Griff besserer Qualität vor dem weiteren Absturz bewahrte. Seinen Freunden, die mit offenen Mündern das Geschehen beobachtet hatten, bleibt die ehrenvolle Rolle in unserer Geschichte, von der Wahrheit dieser fast unglaublichen Aktion Zeugnis zu geben.
Von zahllosen weiteren Abenteuern wäre noch zu erzählen, von noch mehr Verletzungen, die erlitten wurden und von wilden Erstbegehungen, wie am Siula Grande in den peruanischen Anden, wo auch jener mehrfach zitierte Joe Simpson seine Odyssee der Schmerzen durchlebte. Diese Geschichten sich auszumalen, überlassen wir der Phantasie der Leser in der Überzeugung, genügend Eckpunkte für deren Rahmen geliefert zu haben. Kein Jota würden sie am Kern unserer Erzählung ändern, die von maßloser Leidenschaft berichtet und von einem Leben, das an der Grenze siedelt. Jenen Erbsenzählern, die am Schluss dieser Zeilen angekommen, die Mundwinkel überheblich oder gar verächtlich nach unten ziehen und von Verantwortungslosigkeit, Dummheit und sozialen Folgekosten faseln, sei die Überlegung ans Herz gelegt, welch öder, uniformierter Einheitsbrei unsere Gesellschaft wohl wäre, gäbe es da nicht jene herrlich erfrischenden Ausnahmeerscheinungen, die am Rande leben. Denn sie kennen nicht die Sehnsucht, die da brennt und jene erregenden Momente, in denen Körper und Geist im Ausgeliefertsein an die Natur verschmelzen und die menschenferne Dichotomie, die ihnen vom Geist der Aufklärung aufgezwungen wurde, abschütteln. Und sie wissen nichts von den stillen Stunden am Berg, in denen das Glück so dringend ruft, dass im Herzen die Trauer aufsteht und verstehen nicht die Botschaft von Leben und Tod, was schließlich auf ein- und dasselbe hinausläuft.
Peru 2000
von Erich Brabec
PERU 2000 – das ist unser Empfang in Lima, der von allen Häusern lacht. Die Wahlkampfparolen stammen noch vom Frühjahr. Inzwischen ist es Juli, Winter in Peru. Alberto Toledo, der sich vom peruanischen Bauernsohn zum Wirtschaftsprofessor mit Harvard-Erfahrungen hochgearbeitet hat, hat die Wahlen gegen den korrupten und schon mehrfach verurteilten Japaner Fujimori verloren. Wie wir noch erfahren werden, eine für dieses Land typische Entscheidung. Wir aber streiten noch mit der KLM, wohin die selbstverständlich nicht angekommenen Rucksäcke geliefert werden sollen. Heute Nacht sind wir sechs noch in Lima bei Frau Kaiser, einer nach dem Krieg hierher geflüchteten Witwe eines deutschen Offiziers, ab morgen sind wir in Huaraz.
Wir, das sind Renate Demmel, Steffi Ostermann, Christian Wührer, Alexander Horn, Ute (noch) Weigl und ich, Erich Brabec. Huaraz, das ist das Traumziel aller Alpinisten, Verzeihung, hier heißt das Andinisten. Sechstausender, weiter als das Auge reicht, Eis, Ende nie, im Winter fast immer stabiles Wetter und last but not least keine mühsamen Bürokraten, die den Weg zum Gipfel durchqueren. Allerdings: Im Tal, bei unserem Gastgeber Alcides Ames, befinden wir uns schon auf 3000 m und so heißt es erst einmal akklimatisieren. Vor knapp zwanzig Jahren ist eine riesige Eis- und Schlammlawine vom Südgipfel des Huascaran über ein zweihundert Meter tiefes Tal drüber auf die Ortschaft Yungay gedonnert. Von den betonharten Überresten aus sehen wir das erste Mal das Ziel zumindest meiner Träume: den 6768 m hohen Nordgipfel des Huascaran.
Nachdem das alles als Hochzeitsreise geplant war (inzwischen ist es wohl eher eine Polter-Reise) geht es aber erst einmal ruhiger zur Sache. Am 4. Tag beladen unsere zwei Eseltreiber, Aiquillino und Antonio, in Chiquian sieben Esel und ein Rettungspferd (Ekkart, leider ohne Blaulicht) mit unserer Ausrüstung, Gemüse, Eiern, Hühnern, Speck, Schüttelbrot, 2 kg Medikamenten und – und dieser Umstand sollte uns noch zum Verhängnis werden – allem möglichen anderen, das eben niemand von uns wirklich genau im Kopf hatte … 14 Tage für den großen Huayhuash-Trek sind Zeit in Hülle und Fülle, die für so manches andinistische Abenteuer reichen sollte. Leider sind es zu Beginn eher medizinische Abenteuer geworden (Peru verlassen hab ich mit einem knappen Kilo der vorsorglich mitgebrachten Pharmazeutika).
Nachdem unser Durchfall den Bach an Llamac und Pocpa vorbeigeschwommen ist und Alex mit Fieber im Zelt liegt, errichten wir am dritten Tag des Trekking einen Steinmann im Pico Enrico. So benannt nach dem Möchtegernerstbegeher, der am Nachmittag zuvor über den Westgrat im vierten Grad auf diesen ca. 4700 m hohen Noname geklettert ist. Die 1:100.000er-Karte aus den 50er-Jahren und die wenige verfügbare Literatur lassen einen bald glauben, man wäre der erste Bergsteiger hier. Hier, vom Nordende der Huayhuash erahne ich erstmals, welche Szenen sich auf den vor uns liegenden Bergen abgespielt haben müssen. Ninashanca, Rondoy, Jirishanca, Yerupaja Chico, Yerupaja, Siula, Sarapo, Carnicero Jurau, Trapecio, Puscanturpa, Cuyoc. Kenner wissen um die Tragödien und die grandiosen Erfolge, mir bleibt der Mund offen beim Anblick dieser unfassbar hohen und steilen Eiswelt.
Obwohl kilometerweit entfernt, erkenne ich jeden einzelnen Eiszapfen, der von den überwechteten Graten herunterlacht. Stünde es nicht in allen Büchern würde ich nicht glauben, dass es hier noch einmal fast 2000 m aufwärts geht. Tags darauf haben meine Medikamente ihren Zweck erfüllt, und wir überschreiten die 4700 m hohe Punta Cacanan, um auf die Ostseite dieses Gebirgszuges zu gelangen. Ab jetzt führen alle Wasser in den Amazonas und unser einziger Rettungsweg (Ekkart, der ohne Blaulicht) braucht von hier im besten Fall drei Tage bis zum nächsten größeren Ort. Auch für die Peruaner ist hier, auf über 4000 m, nur ein zeitweises Leben möglich. Der mittelalterliche Lebensstil der wenigen Menschen die wir hier sehen, beeindruckt ebenso wie die grandiosen Berge über uns und die scheinbar ewige Weite der Talböden, die sich bis in den Dschungel des Amazonas schlängeln.
Abend stellt sich dann heraus, dass die vom Kettner im DEZ so gepriesenen Lachsbällchen doch nix für die Forellenschwärme in den Bächen sind, die sich durch ein Hochmoor am Fuß des Jirishanca graben. Zum Glück sind wir dem Vorschlag unserer Eseltreiber gefolgt und haben deren Verwandten aus der letzten Strohhütte noch Käse abgekauft. So kommt auch niemand von uns auf den Gedanken, dass all die lieben Freunde unserer Arieros, die wir im Morgengrauen vor unseren Zelten treffen, möglicherweise gerade einen guten Deal gemacht haben. Zum Glück wird unser Gepäck vom vielen Essen weniger und nicht vom Diebstahl.
Von der Laguna Carhuacocha gelingt mir noch ein netter Ausflug auf einen Vorgipfel des Yerupaja Chico. Am Hinweg fressen mich fast drei Hunde, am Rückweg fotografiere ich so lange, dass es schon stockfinster ist, als die Rettungsexpedition doch noch abgeblasen wird, weil ich endlich wieder im Lager auftauche. In Grzimeck’s Lexikon finde ich daheim endlich heraus, dass das Murmeltier mit Hasenohren, das mich einen Film gekostet hat, Hasenmaus heißt.
Am nächsten Tag löst Ute Alex beim Reiten ab. Nicht, dass er es endlich gelernt hätte oder sie es noch lernen wollte, nein, sie muss es noch; möglicherweise ist ihre Appetitlosigkeit und Schwäche ein Anfang der Höhenkrankheit. Da wir uns gleichweit vom Anfang wie vom Ende befinden, beschließen wir trotzdem weiterzugehen. Punta Carniciero, Huyahuash, Punta Portachuelo, herrliche Etappen, aber leider geht es Ute kaum besser, höchstens was das Reiten anlangt. An der Laguna Viconga schwitzen wir in einer heißen Quelle, bis wir die paar hundert Meter zu den Zelten nur mehr kriechen. Dann geht es wieder zurück auf die Westseite, wo uns wärmere Nächte, aber auch feuchtere Luft erwarten.
Vom Pass aus, der Punta Cuyoc, gelingt mir noch ein Vorstoß auf den 5550 m hohen Puscanturpa. Wenigstens dieses eine Mal auf diesem Trekking kann ich das Eisbeil schwingen. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit, das heißt hier, nahe dem Äquator, das ganze Jahr über um 18 Uhr, erreiche ich endlich die anderen. Utes Zustand ist zwar stabil, aber sie trinkt viel zu wenig. Auf dieser Höhe dehydriert man sehr schnell, wenn man nicht Unmengen trinkt, deshalb trennen wir uns. Ute und ich versuchen mit Antonio, einem Esel und Ekkart so rasch wie möglich zur nächsten Straße im ca. 20 km entfernten Cajatambo zu gelangen. Inzwischen schafft es Ute nonstop zu reiten und immer wieder reiche ich ihr Wasser und Jause, während Antonio Ekkart antreibt. In der Abenddämmerung überschreiten wir den letzten Pass, erst Stunden später kippen Ute und ich in das armselige Bett, das Antonio für uns organisiert hat.
Um fünf Uhr morgens verabschieden wir uns. Er kehrt zurück zu Renate, Christian, Steffi und Alex und wir beginnen die abenteuerlichste Busfahrt unseres Lebens. Abenteuerlicher geht nicht, das überlebt man dann nicht mehr… Nicht dass der Fahrer schnell gefahren wäre oder nicht fahren konnte, nur war der Bus schmäler als die Straße, das Fahrwerk offensichtlich nicht. Einen halben Kilometer und 2 Kehren, schmäler als der Bus lang, rückwärts fahren und dann vom entgegenkommenden Vehikel langsam fast in die hundert Meter tiefe Schlucht geschoben werden… Ute war bald wieder gesund!
Nachdem ich in Huaraz drei Tage gekotzt habe, treffen die anderen gerade ein, als Ute und ich ins Quebrada Llanganuco aufbrechen. Schnell vereinbaren wir einen Treffpunkt und einen halben Tag später richten wir zwei es uns in einer Strohhütte am Ende des Tales gemütlich ein. In der Früh regnet es noch nicht, aber nach einigen hundert Höhenmetern in Richtung Yanapaccha ist es soweit. Nachdem wir nicht einmal sicher sind, ob wir im richtigen Tal sind, müssen wir auf Sicht gehen, Wege gibt es hier nicht und die Nebeldecke steigt ungefähr gleichschnell wie wir. Kurz und gut, wir finden den Berg nicht.
Irgendwann stehen wir in einem steilen Schneefeld. Unter uns eine Steilstufe, die wir gerade noch umgehen konnten, über uns ein Granitriegel, der A niemals zum Yanapaccha gehören kann, und B ohne Seil weder bezwingbar noch umgehbar scheint. Wie zum Hohn reißt der Himmel auf, ein herrliches Panorama über das ganze Tal, vom Huandoy über Chacraraju und Pisco und bis zum Chopicalqui und den Huascaran-Gipfeln tut sich auf und macht uns klar, dass wir weit weg vom Yanapaccha sind. Offensichtlich sind wir auf irgendeiner Felspyramide nahe der Portachuelo de Llanganuco gelandet, so auf 5200 Meter. Abstieg wieder im Nebel, herrliches Lagerfeuer, Aufstieg zur Rifugio Peru am Fuß des Nevado Pisco. Ute und ich schlafen im Zelt, Renate und Christian, Steffi und Alex, die beide in Huaraz ebenfalls noch eine zweitägige Darmreinigung hinter sich gebracht haben, in der Hütte des CAI. Bei traumhaft schönem Wetter durchqueren wir in der Nacht den Blockgletscher, Petzl sei Dank. Bei Sonnenaufgang genießen wir schon einen herrlichen Rundblick, rund um uns eine sanfte Gletscherlandschaft.
Nur der Gipfelaufbau verbirgt sich hinter einer 15 Meter hohen, überhängenden Spalte. Aber nachdem wir einen völlig problemlosen Weg herum gefunden haben, verstehen wir, warum der 5752 m hohe Pisco wohl der am öftesten begangene Berg Perus ist. Zu den Eisriesen des Llanganucotales gesellen sich Aguja, Caraz, Artesonraju, Santa Cruz, Quitaraju, Alpamayo und ewig lange Täler. Ein grandioses Wetter, der Blick hinüber zum Huandoy und Huascaran schürt meine Träume. Unter uns fällt die Südwand 800 m senkrecht zur Laguna 69 ab. Steffi und Alex treffen wir im Abstieg, sie waren noch zu schwach für die doch 1200 Höhenmeter von der Hütte zum Gipfel. Zurück in Huaraz trennen sich unsere Wege. Steffi sowie Alex, Renate und Christian haben genug von den Bergen und fliegen über Lima nach Cusco, der alten Hauptstadt des Inkareiches. Macchu Picchu und das Valle Sagrado mit den fünfhundert Jahre alten Städten des Inkavolkes sollten ein Pflichtpunkt jedes Perureisenden sein.
Ute und ich haben Lust auf mehr, aber was soll man schon groß wagen? Am Abend in der Creperie spricht mich plötzlich ein Schweizer Freund meines Bruders an, er heisst auch Erich! Per E-Mail hat er erfahren, dass wir hier sind und der Schweizer, der das Lokal betreibt, ist ein beliebter Treffpunkt für Schweizer und Österreicher. Mit einer Gruppe von Erich Gatt würde er am nächsten Tag zum Huascaran aufbrechen. Schließlich vereinbaren wir, dass Ute und ich einen Tag später aufbrechen werden.
Im Westalpenstil auf den Huascaran.
1. Tag: Von Musho in 3000 m auf das Campo Moreno in 4800 m, ein Esel trägt uns die Rucksäcke bis auf 4100 m, dann geht es über glatte Granitplatten in einem endlosen Wirrwarr von Steinmännchen, die überall sind, nur nicht bei den wenigen möglichen Passagen.
2. Tag: Nach einer kurzen Nacht überholen wir zwei um acht Uhr früh auf 5200 m die Gattgruppe, Erich kriecht gerade aus seinem Zelt als wir ankommen. Nach einem kurzen Smalltalk treibe ich Ute vorwärts, vor uns liegt die Bruchzone, die sich bis auf 5900 m zieht. In einem Bergsportgeschäft in Huaraz habe ich erfahren, dass die Schlüsselstelle eine etwa 4 m hohe, überhängende Eisstufe auf etwa 5700 m sei. Ute und ich sind absolut minimalistisch unterwegs, neben Lebensmitteln, Campingausrüstung und Unmengen von Kleidung war für die Eisausrüstung nicht mehr viel Platz, so haben es eben drei Eisschrauben und die Aluhauen tun müssen. Um nur ja vor der neun Mann starken Gruppe zu sein, seile ich mich ab und versuche, ob ich die Schlüsselstelle vielleicht schon absichern kann, bevor Ute dort ist. Endlich erreiche ich 5700 m, doch vor mir türmt sich eine schier endlose Eiswand auf. Von vier Metern keine Spur. Alle Hoffnung verlässt mich, kurz denke ich an die Gruppe hinter mir. Die werden uns schon irgendwie da rauf bringen … da fällt mir auf, dass erstaunlich viele Spuren mitten in die Spalte am Fuß der 20 m hohen Wand hineinführen, mehr als auf ein alpines Scheißhaus. Was ich finde ist schließlich, was ich erwartet habe, eine Querspalte durchzieht die Wand und mündet, wie mir beschrieben worden ist, im Spaltengrund. Und obendrein hängt noch das Seil unserer Vorgänger drin. Bis ich oben bin und Ute nachgesichert habe, ist schon längst die gesamte Gruppe von Erich da und während ich den Rest der Querspalte bis zum Ausstieg versichere, sichert Ute einen der Gruppe nach. Dann wartet nur mehr die Querung unter der Westwand des Huascaran. Ein zwei Meter großer Eisblock liegt auf der Spur vom Vortag.
3. Tag: Die Nacht auf der Garganta, dem 6000 m hohen Sattel zwischen Nord- und Südgipfel ist Dank der exzellenten Schlafsäcke von Otti trotz eisiger Kälte erholsam. Ute ist so müde, dass wir erst sehr spät aufbrechen, zu spät, wie wir bald feststellen müssen. Schon zweihundert Meter über den Zelten, bei den ersten größeren Spalten, holen uns die ersten Sonnenstrahlen ein. Obwohl die Eisflanken durchwegs 40-45° steil sind wird es selten anstrengend, da wir in einer tief ausgeschlagenen Spur gehen. Auf 6400m wird es endlich flacher, aber langsam holen uns auch die Nebel ein, die uns schon seit 9 Uhr verfolgen. Auf 6500 m beginnt es zu schneien. Für die letzten 100 Höhenmeter haben wir über eine Stunde benötigt, daher beschließen wir umzukehren. Es scheint, dass unser Plan doch zu wagemutig war. Da schaut Ute mich an und meint: Versuch es doch wenigstens du! Hier legt sich das Eis zurück, nach all den steilen Passagen wirkt der Rest wie ein Spaziergang. Auch die anderen Seilschaften haben hier das Seil deponiert. Ich fühle mich topfit, die lange Vorbereitung hat sich gelohnt. Ich lege alles ab, was ich nicht unbedingt brauche, ein halber Liter Tee muss reichen. Ohne das Gewicht des Rucksacks fliege ich förmlich auf den Gipfel und nach knapp vierzig Minuten erreiche ich, kurz bevor die letzte Seilschaft den Gipfel verlässt, das Ziel meiner Träume!
4. Tag: Der Abstieg war bis auf eine Steilstelle problemlos. Die zweite Nacht auf der Garganta war wesentlich bitterer, da wir beide das nach Benzin schmeckende Wasser nicht mehr hinunterbrachten und so waren wir eine Stunde nach Sonnenaufgang bereits bei der ersten Quelle unterhalb des Gletscherrandes. Da es uns nach einer langen Pause schon wesentlich besser ging, beschlossen wir am gleichen Tag noch nach Musho abzusteigen. Vollkommen erschöpft fielen wir spät in der Nacht bei Alcidez ins Bett. Und so blieb uns noch der 5. Tag um gemütlich zu packen und am Tag darauf ebenfalls nach Cuzco aufzubrechen. Dort genießen wir noch eine Woche lang die Entdeckungen der Archäologen und durchstreifen drei Tage lang den Dschungel am Oberlauf des Amazonas. Nördlich von Venezuela flittern Ute und ich vor dem Heimflug dann eine Woche lang auf einer einsamen Insel.
Das Gipfelstürmerbiwak
von Wolfgang Grömer
Samstagabend, 9. August 1997, Laliderer Spitze, der Gratabschnitt auf Höhe des Dibona-Ausstieges. Um die Feuerstelle von “Chefkoch” Roman Klingenschmid schart sich eine bunt gemischte Runde von “Gipfelstürmern” und Gästen, bereit, den Abschluß einer gelungenen Aktion gebührend zu feiern. Bis auf Kleinigkeiten ist an diesem Tag nämlich ein Gemeinschaftswerk der “Alpinen Gesellschaft Gipfelstürmer” fertiggestellt worden, das sicherlich einen Markstein in der Geschichte des Vereines, betreffend dessen nichtalpine Tätigkeiten, darstellt. Das orangerote, bereits mehr als 25 Jahre alte, schon ziemlich mitgenommene “Konrad Schuster-Biwak” wurde gegen eine neue, wieder nach den in den letzten Jahren gewonnenen neuesten Erkenntnissen geplante und gebaute Biwakschachtel ausgetauscht.
So steht nun seit diesem Abend eine silbrig glänzende Aluminium-Holz-Konstruktion auf der alten Mero-Plattform und dient den vorbeikommenden Bergsteigern und Kletterern als Schutz vor Wetterunbillen oder auch nur als kurzzeitige Stätte zum Verschnaufen und Ausruhen nach ihrem schweißtreibenden Weg herauf zu den umliegenden Gipfeln, egal ob von Norden durch die Wände oder von Süden über die weiten, einsamen Kare. Das alte “Polybiwak” wurde ebenso entsorgt wie die Reste der eisernen Karwendlerschachtel, die dort oben schon seit Jahrzehnten ein eher trauriges Dasein als Abfalldeponie fristen mußte.
Die Entfernung der alten Hütte wurde in dankenswerter Weise von den Karwendlern übernommen, für die mit dieser Aktion wohl auch endgültig ein Kapitel ihrer Vereinsgeschichte geschlosssen wurde, waren es doch ihre Mitglieder, die im Jahre 1948 die damals erste Notunterkunft auf dem Grat unter der Lalidererspitze errichtet hatte.
Nun, beinahe 50 Jahre später, hat sich allerdings einiges geändert und von einer Notunterkunft kann höchstens noch in Bezug auf das Fassungsvermögen der Schachtel gesprochen werden.Eine mit Strom aus einer Solarzelle gespeiste telefonische Direktverbindung zur Tiroler Bergrettungs-Einsatzzentrale fehlt ebensowenig wie eine aus derselben Energiequelle gespeiste Innenbeleuchtung, ein Kochplatz und ein großer Tisch zum Essen ergänzen die Schlafplätze, die für 12 Personen ausgelegt wurden. Der Tisch kann mit wenigen Handgriffen zerlegt werden und macht dadurch zusätzlichen Raum für zwei weitere Schlafplätze frei.
Über alles aber spannt sich eine 2 mal 2 Meter große Plexiglaskuppel, die tagsüber für genügend Licht sorgt und in der Nacht Schlaf unter einem Sternenhimmel wie bei einem Biwak im Freien ermöglicht.Eine Übernachtung in der neuen Biwakschachtel wird daher, entsprechendes Wetter vorausgesetzt, zu einem echten Erlebnis.Daß die neue Unterkunft mehr als gut angenommen wurde zeigen die Eintragungen im neuen Hüttenbuch. Sie belegen, daß bereits in der relativ kurzen Zeit seit der Aufstellung hier mehr Bergsteiger übernachtet haben als in den ganzen zweieinhalb Jahrzehnten davor im alten “Polybiwak”. Die neue Schachtel ist also, nicht zuletzt wegen der gelungenen Konstruktion des Innenraumes, der Beleuchtung sowie der Kuppel, ein Anziehungspunkt sowohl für Normalbergsteiger als auch Tourenschifahrer geworden, die nun in vermehrtem Ausmaß die Annehmlichkeiten derselben in Anspruch nehmen.
Wie schon bei der Errichtung des alten “Konrad Schuster-Biwaks” vor mehr als 25 Jahren stellte auch diesmal nur der volle Einsatz der zahlreichen freiwilligen Helfer sicher, daß dieses Werk gut abgeschlossen werden konnte. Sei es durch persönlichen Arbeitseinsatz oder durch finanzielle Unterstützung, die Zahl der Helfer war groß und schon aus Platzgründen ist es nicht möglich, alle an diesem Werk Beteiligten hier zu erwähnen. Aber in der vom Verein nach der Aufstellung der Schachtel herausgegebenen Dokumentation über die Geschichte der nunmehr bereits drei Biwakschachteln am Laliderergrat ist das bereits in gebührender Art und Weise geschehen und auch die technischen Details etc. wurden in dieser Broschüre ausführlich behandelt. Heute, etwas mehr als vier Jahre nach der Aufstellung, präsentiert sich das Biwak nach einigen notwendig gewordenen Adaptierungen wie einer etwas höheren Kuppel oder einem überarbeiteten Notruftelefon in dem von den Erbauern gewünschten Endzustand und wir hoffen, daß es so wie seine zwei Vorgänger über viele Jahre hinweg seinen Zweck in hervorragender Weise wird erfüllen können.
90 Jahre junge, wilde Gipfelstürmer!
von Otti Wiedmann
Ein Ausschnitt aus den Highlights der alpinen Erschließungsgeschichte mit unserer Beteiligung
Mit etwas Stolz können wir “Gipfelstürmer” heute zurückblickend feststellen, dass unser winzig kleiner Verein in der gigantischen Bergsteigerszene proportional gesehen auch weltweit einen gar nicht so kleinen Anteil zur Entwicklung und Erschließung beigetragen hat. Interessant ist die Tatsache, dass in den ersten Jahrzehnten der Vereinsgeschichte sich dieser Anteil ausschließlich in der heimischen Bergwelt abspielte. Dies mag vor allem damit zusammenhängen, dass der Kern der Vereinsmitglieder bestenfalls aus dem Mittelstand kam und für weite Auslandsreisen das nötige Kleingeld fehlte. An Ideen und Träumen hatte es bestimmt nicht gemangelt. Erst viel später konnte sich der Eroberungsdrang das heute total klassenlosen Vereines auf die Weltberge ausdehnen. Die Möglichkeiten öffneten sich mit besseren Finanzierungszuschüssen von Gönnern und Trägervereinen und auch mit der Lockerung der allgemeinen puritanisch konventionellen Lebenseinstellung bis hin zum Aussteigertrend. Es entwickelte sich ja auch langsam die Möglichkeit, vom Bergsteigen alleine leben zu können – und zwar verdammt gut – ohne den Beruf eines Bergführers ausüben zu müssen. Für die “Gipfelstürmer” der ersten Stunde waren ja in der heimatlichen Bergwelt so viele ungelöste Probleme vorhanden, dass ein Blick in die entfernten Winkel unserer Erde auch gar nicht nötig war.
So kam es schon drei Jahre nach der Vereinsgründung im Jahr 1911 zum ersten Paukenschlag. Am 19.07.1914 durchstiegen der Vereinsvorstand Konrad Schuster und die Mitglieder Walter Hummel, Luis Netzer und Karl Aichner die Riepenwand NW-Wand (V A0, frei VI-). Dies war der erste Meilenstein in den Kalkkögeln und für die Vereinsgeschichte. Heute ist die Route bekannt als “Fliegerbandlweg”, weil eine nette Anzahl an Kletterern am langen Quergang, vermutlich meist durch falsche Linienführung, recht weite Stürze tätigte.
1918 folgte der “Gipfelstürmerweg” an der Kleinen Ochsenwand durch Netzer, Gebhart und Hummel, dessen Moosüberhang heute noch vielen Aspiranten größte Mühe bereitet (V+, A0, frei?).
Die großartige Berggestalt des Pflerscher Tribulauns lockte 1920 Schuster, Netzer und Bernardi Franz. Sie fanden im linken Teil durch die Nordwand erstmals eine Route im IV., teilweise V. Grad.
Nicht unerwähnt soll auch die NW-Kante am Wasserkofel in der Geislergruppe bleiben, die heute noch mit V+ bewertet wird oder die 1931 durch Hans Frenademetz mit Hias Auckenthaler bezwungene Nordwand der Westlichen Praxmarerkarspitze (V+, VI-).
Die ersten wirklich wilden Erstbegehungen wurden 1933 durch Hannes Schmidhuber mit Hias Auckenthaler eingeleitet. Am 10.08. eroberten sie die Riepenwand durch die gelbschwarze Westwand, wobei erstmals der reine 6. Grad in die Vereinsanalen eingetragen werden durfte. Heute, fast 70 Jahre später, weist die Route kaum 20 Wiederholungen auf und ist nur absoluten Alpinkönnern vorbehalten. 19 Tage nach der Riepen-Westwand gelang derselben Seilschaft die Laliderer-Nordwand auf einem direkten Weg zum Gipfel, die sogenannte “Auckenthalerführe”. Wenn auch die Kletterstellen dieser Route nicht ganz an die Schwierigkeiten der Riepentour herankommen, so ist sie doch in der Gesamtheit ein äußerst ernstes Unternehmen.
Das letzte große “Highlight” dieser Seilschaft schreibt das Jahr 1935: die Östliche Praxmarerkarspitze-Nordwand (VI), ein Weg, der von den wenigen Wiederholern (keine zehn) nur in Schauergeschichten beschrieben wird.
1936 stürzte Mathias Auckenthaler, an seinem Riss im Schüsselkar tödlich ab.
In der Vereinschronik sind 1935 erstmals erste Alleinbegehungen durch Kuno Rainer vermerkt: RAC-Turm-Westwand, Riepenwand-NW-Wand und Karwendlerturm.
1938 folgt die erste bedeutende Wintererstbegehung durch Kuno Rainer und Heli Franz. Im Jänner bezwingen sie mit einem Biwak die Riepenwand-NW-Wand.
1939 gelingt dem jungen Heli Franz die erste Alleinbegehung der Martinswand, später muss er seine hochkarätigen bergsteigerischen Zielsetzungen durch eine Kriegsverletzung jäh einschränken.
Eine geradezu großartige Linie fand Kuno Rainer 1939 mit Peter Aschenbrenner an der Schüsselkar-Südwand mit der “Direkten” (VI, A0). Mit dem Sportklettereinstieg “Piranhas” (VII) und der Benutzung des “Rainerrisses” stellt diese eine fast kerzengerade, lotrechte Schnur zum Gipfel dar.
Der junge Hermann Buhl, sechs Jahre seiner Sturm- und Drangzeit auch Mitglied der “Gipfelstürmer”, trug sich 1943 als erster Begeher der Mauk-Westwand in die Kaisergebirgs- und unsere Vereinschronik zusammen mit Wastl Weiß ein. Ein Jahr zuvor gelang ihm die 1. Alleinbegehung der “Herzog-Fiechtl” in der Schüsselkar.
Eine Neutour der Extraklasse geht auf das Konto Kuno Rainers mit Herbert Eberharter: Pflerscher Tribulaun-NW-Wand (VI), wobei andere Begeher auch von Stellen VI+ sprachen und alle den Erstbegehern große Anerkennung zollten.
Herbert Eberharter war zusammen mit Erich Streng an der Scharnitzspitze links von “Schmidhuberkamin” (VI-) und “Leberleweg” erfolgreich, wobei diese Führe erstmals den Beinamen “Sportkletterei” erhielt.
Rainer hakte die erste Solodurchsteigung der “Schmidführe” in der Grubenkar Spitze-Nordwand (1946) ab und Hermann Buhl 1947 die direkte Speckkar-Nordwand.
Der “Buhldurchschlag” an der Speckkar-Westwand mit Luis Vigl (VI) war eine feine Leistung, wurde aber Wochen später am 04.09.1947 durch die Gipfelstürmerseilschaft Buhl-Schiendl an der “Gelben Kante” am Lamsen-Hüttenturm überboten (VI, VI+). Nachdem Wiederholer von großen klettertechnischen Schwierigkeiten und von einer 20 m hohen lockeren Schuppe sprachen, über die man hinwegklettern muss, wurden im ÖAV in Schwaz ernstliche Überlegungen wegen einer Sperre der Route in Betracht gezogen.
Die “Buhl-Streng” als wunderschöne und kühne Begradigung der “Micheluzzi” an der Ciavazes-Südwand 1949 war die vorletzte Großtat für längere Zeit.
Es folgte noch 1951 die schon längst fällige 1. Begehung der direkten Pflerscher Tribulaun-Südwand durch die jungen Mitglieder Toni Braun und Hubert Niederegger (VI-). Außer diesen beiden zerfiel die Crew der Extremisten, die so lange für Aufsehen in Fachkreisen sorgte. Zuerst wechselte Hermann Buhl und dann Kuno Rainer zu den Karwendlern. Eberharter vertschüsste sich als Ehemann vom Steilfels. Schiendl zog nach Spanien.
Ab 1955 kam aber jährlich wieder frisches Blut zum Klub und es begann die neue Blütezeit in bergsteigerischer und gesellschaftlicher Hinsicht.
Der junge Walter Spitzenstätter verewigte sich 1958 mit der “Spitz-Baldauf” (VI-, A0) an der Scharnitzspitze und Otti Wiedmann gelang die 1. Alleinbegehung der SW-Risse am Schüsselkar-Westgratturm, ebenfalls 1958.
Die Herausforderung einer 2. Führe durch die Martinswand nahmen sich die siebzehnjährigen Walter Spitzenstätter und Robert Troier zu Herzen und eröffneten die sogenannte “Direkte”. 17 Bohrhaken im langen Rechtsquergang waren der Schlüssel zum Erfolg bzw. die Verbindung der schwarzen Verschneidung und der Ausstiegsrisse.
1959 war auch erstmals ein “Gipfelstürmer” zu den Bergen der Welt unterwegs. Martin Günnel, einer von der äußerst sympathischen Sorte der Germanen, wurde durch “Ohnmacht’sche Connection” zum Verein gebracht und fühlte sich bei uns pudelwohl. Mit einer englischen Karakorum-Expedition fuhr er zum noch unerstiegenen Batura-Mustagh. Die gesamte Bergsteigermannschaft kam vermutlich beim Gipfelgang in ein fürchterliches Unwetter und keiner kehrte vom Berg zurück. Für den Klub ein verheerender Start in das Geschehen des Weltbergsteigens.
1960 zählte der Verein nicht weniger als 20 junge Bergsteiger, die sich im 6. Grad bewegten! Eine Bilanz, die nach den mageren Jahren Anfang der Fünfzigerjahre zu einem guten Teil dem 1955 zum Obmann gewählten Heli Franz zuzuschreiben ist. So ging das Suchen nach “Neuem” munter vorwärts, man wurde zu ehrgeizigen Plänen im Klub motiviert. Die “Direkte” an der Martinswand (VI, A1), der Hechenbergpfeiler (VI-, A0) und der Karlspitzpfeiler (VI-, A0) erlebten durch Kurt “Gaga” Schoißwohl 1961 bis 1963 den ersten Solokletterer. Vor allem der Hechenbergpfeiler war auch für die damals übliche Art des Solobergsteigens – wenn man die Felsqualität und die Hakenabstände in Betracht zieht – eine riesige Herausforderung für “Gaga”.
Der Hochwieseler-Südpfeiler in den Tannheimern (VI-, A1) wurde von Otti Wiedmann 1961 erstmals alleine bezwungen.
Die Route “Himmel und Erde” an der Kl. Ochsenwand erhielt am 25.02.1962 durch Spitzenstätter und Schoißwohl die 1. Winterbegehung.
Zwei Jahre später, im Jänner 1964, gelang derselben Seilschaft mit einem Biwak die “Rebitsch-Loserth” an der Riepenwand (VI), eine herausragende Leistung.
Im Frühjahr 1963 gelang den beiden die Gerade Südverschneidung am Hechenberg (VI) und im Herbst dann mit dem Ostriss an der Martinswand eine neue Führe, die später sicher zu den beliebtesten Routen im unteren 6. Grad der gesamten Alpen wurde.
Nun trat auch Simon Huber als Neulandentdecker in Aktion. 1964 durchlöcherte er – vielleicht im jugendlichen Elan etwas unbedacht – die Große Ochsenwand-NO-Wand mit Bohrhaken und einem direkten Weg. Die “HU-HU” am Oberreintalschrofen kostete ihm und Winni Huber viel Energie und Power, ihr steht eher Sportklettercharakter zu. Später (1968) war Simon dann an der Fleischbank mit der NO-Verschneidung erfolgreich. Die sogenannte “HU-RA” (Partner Rath Wolfi) weist eine schöne Linie auf und wurde sehr beliebt und öfters begangen (VI-, A1).
Eine echte Gipfelstürmerangelegenheit wurde 1967 die erste Winterbegehung der “Vinatzerführe” an der Marmolada durch Walter Spitzenstätter und Otti Wiedmann. Ein vereinsinterner Betreuerstab für die anfängliche Versorgung von unten und für eine eventuelle Rettung von oben bzw. für den Skitransport zum Gipfel war ein so großer Rückhalt, dass trotz eines gewaltigen Wettersturzes (Sturm und minus 17 Grad) die Sache mit vier Biwaks erfolgreich abgeschlossen werden konnte und einer rauschenden Abfahrt im Pulverschnee vom Gipfel schließlich nichts mehr im Wege stand.
Bei der ÖAV-Innsbruck-Jubiläums-Expedition in die Cordillera Huay-Huash (Peru), gelang Egon Wurm und Sepp Mayerl die Erstbegehung des Südostpfeilers am 6634 m hohen Yerupaja Grande, der zuvor von Engländern schon stark umworben und vor allem eine objektiv ziemlich gefährliche Sache war, erschwert wegen des steinschlaggefährdeten Abstieges durch die Ostwand. Fakt: Egon Wurm stand als erster “Gipfelstürmer” auf dem Gipfel eines Weltberges. Noch erfolgreicher aber war damals Expeditionsarzt Dr. Raimund Margreiter, der die enorm erfrorenen Zehen von Egon fast und die von Sepp zur Gänze rettete.
Großartige Nachwuchskletterer stießen zum Klub, zuerst Walter Grimm, der leider schon bald durch einen tragischen Bergunfall beim Filmen am Mt. Blanc ums Leben kam.
Schiestl Reinhard war einer der großen Interpreten der von Reinhold Messner herbeigesehnten und selbst verkörperten “Fair-Means-Linie”: wenig Aufwand und ohne Bohrhaken. Schon 1974 war Reinhard mit Osttirolern in Grönland und konnte einige bemerkenswerte Erstbegehungen verzeichnen. Es folgten kleinere Neuwege in der näheren Heimat, ehe die große Zeit der Erstbegehungen im Wetterstein, im Kaiser, in den Dolomiten und vor allem in der Marmolada begann (1977). Einige Klemmkeile, wenige Haken und enormes Können, das war alles, was mitgebracht wurde. Bei diesen Unternehmungen war er hauptsächlich mit Luggi Rieser und Heinz Mariacher am Werk. Im November 1978 fuhren Reinhard und Luggi ohne Hoffnung zur Marmolada, trotzdem gelang in einer unglaublich kurzen Zeit die erste Begehung der “Schwalbenschwanz” (VI) mit einer wirklich kompakt kühnen Plattenlänge.
1976 war Ruppi Geiswinkler am Noshaq (7492 m, Pakistan), wo ihm zusammen mit Horst Bergmann und Wolfi Nairz aus 6900 m Höhe ein Drachenflug ins Basislager gelang (damals Höhenweltrekord!).
Schon ein Jahr zuvor konnte Oswald Ölz mit Reinhold Messner am 6236 m hohen Mount Mc. Kinley eine neue Linie finden. “Wall of the Midnightsun”. Zu erwähnen ist auch noch, dass “Bulle” bereits 1974 in der Makalu-Südwand bei einem Erstbegehungsversuch (Nairz-Expedition) eine Höhe von 7200 m erreichte, ehe die Expedition abgebrochen wurde.
Ebenfalls 1976 war Kurt Schoißwohl in der Cordillera Huay- Huash tätig und konnte mit seinen Partnern Mario Blumthaler, Michel Grüner und Georg Kaser am Siula Grande (6356m) eine schöne, neue Führe eröffnen. Der Abstieg vom “Joe-Simpson-Schicksalsberg” über den beidseitig überwechteten Nordgrat war eine sehr heikle Angelegenheit.
Die Eroberungsszene spielte sich aber in der Heimat ab: z. Bsp. wurde an der Riepenwand 1978 die “Supercrimson” von Reinhard Schiestl zusammen mit Michel Wolf und Robert Purtscheller erstbegangen und hat sich bald einen schaurigen Ruf eingehandelt, da die Absicherung cool und schwierig ist. 1979 konnte Schiestl mit Rieser die “Morgenlandfahrt” an der Schüsselkar eröffnen. Bewertet wurde vorsichtig mit VI-. Viele Wiederholer bestätigten eine VI+. evtl. VII-. Die “Sphinx” am Fleischbankpfeiler folgte ebenso wie die “Don Quichotte” an der Marmolada. Alleinbegehungen wurden natürlich hauptsächlich echt “free-solo” durchgeführt, daher auch in sagenhaft kurzen Begehungszeiten. So auch 1978 durch Reinhard Schiestl die dir. Südwand (“Auckenthaler”) am Hechenberg in etwas mehr als einer Stunde und drei Jahre später der Ostriss der Martinswand in elf Minuten und die “Cassin” in der Badile-NO-Wand in 80 Minuten!
Durch die Freeclimbingszene gab es ein neues Betätigungsfeld: alte, klassische Touren (vor allem sogenannte “Fiffiwege”) ohne Hakenbenützung (nur zur Sicherung) zu klettern. Da entstanden natürlich bestimmte Regeln, die vor allem in den vielen neuen Klettergärten angewandt, aber auch ins Gebirge übertragen wurden. Die Sportkletterszene wuchs zu einer Macht und bald gab es welche, die vom Alpinbergsteigen dorthin wechselten. Im Verein entstand natürlich auch eine solche Szene, aber alle blieben dem Alpinen treu. Anfang der Achtzigerjahre kletterten Reinhard Schiestl und Stefan Bichlbauer bereits im unteren 9. Grad. Stefan eröffnete hauptsächlich am Fuße der Martinswand neue Routen, während Reinhard im Ötztal – wo er als Lehrer arbeitete, alle Boulderblöcke und Wände erschloss.
Mit Gogl Hansjörg und Ohnmacht Peter wurde unser Klub wieder um zwei wilde Junge bereichert, ihre Neuroute “Luftballonweg” am Mannigkogel war eine feine Sache (VI-).
1980 war das Jahr des Riepenpfeilers (VII, A3), durch Andreas Orgler mit einem Biwak erstbegangen (nach Vorbereitung). Da wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt: “Unmöglich!”. Heute sehen die meisten dies anders, da Andi ja seine Qualitäten schon oft genug bestätigt hat. Ich bin in meiner langen Laufbahn mit vielen hervorragenden Partnern geklettert, aber ich habe noch keinen annähernd so gefinkelten Absicherungstechniker wie Andi erlebt. Ich bin mit ihm auch einige Seillängen am Riepenpfeiler geklettert (bis es zu regnen begann), wobei er mir alle Stellen des Weiterweges exakt beschrieb und bei seiner Begehungstaktik der Erfolg eigentlich nur sehr schwer zu gefährden war. 1983 ließ er vor den Augen seiner Frau Angelika den “Göttlichen Wahnsinn” am Ostsporn der Seespitze im etwa gleichen Schwierigkeitsgrad folgen. Von seinen anderen unzähligen Solobegehungen möchte ich nur zwei herausstreichen und stellvertretend für viele gleichberechtigte erwähnen: die Riepenwand- Westwand 1986 und die Pflerscher Tribulaun- Nordwand (“Rainer-Eberharter”) 1982.
Reinhard Schiestl wurde von Reinhold Messner 1985 zur unerstiegenen NW-Wand der Annapurna (8091m) eingeladen. Er arbeitete viel in der Wand (Seilfixierungen und Wandlager errichten), aber der Gipfel glückte nur Messner und Kammerlander, da es wegen Sauwetters zu keinem weiteren Versuch mehr kam.
Am mächtigen Masherbrum (7824m) waren Andi Orgler und Robert Renzler 1985 an der extrem steilen Nordwand zusammen mit Michel Larcher erfolgreich. Der objektiv sehr gefährliche untere Wandteil wies Eispassagen bis zu 75 Grad auf und der obere Teil bis fast zum Gipfel Fels zwischen 5. und 6. Grad.
Hansjörg Gogl gelangen auch 1985 im Zuge der ÖAV-Jugend-Expedition in Grönland zwei Erstbegehungen (“Excalibur” SO-Pfeiler, 700m, V/VI- und “Pyramidenspitze” V). Zwei schöne Neurouten.
Mit Andi Orgler, Wastl Ruckensteiner, Klaus Geiswinkler, Robert Renzler, Heli Neswadba, Tommy Bonapace und später Christian Zenz, Harry Riedl und Sepp Jöchler kam wieder geballte neue Kraft in den Verein, sehr zur Freude (aber auch Leid) vom Chronisten.
Nun wurden die wilden Gipfel in Patagonien und die ihnen nichts nachstehenden Granitriesen der Ruth-Gorge in Alaska heimgesucht. In Patagonien fiel bisher die Zahl der Neutouren nicht so üppig aus, da unsere Protagonisten dort immer mit fürchterlichem Wetter zu kämpfen hatten. Aber einige große Anstiege sind Tommy, Heli, Wastl und Christian “Grisu” Zenz geglückt, wobei von den Erstbegehungen vielleicht die von Tommy und “Grisu” im heurigen Jahr gemachte Ostwand der Aguja CAT im Torre-Massiv die beeindruckendste der vollendeten ist, aber auch die Neutouren an der Bifida und den Cuatro Dedos waren große Unternehmungen. Immer wurde auf den Begehungsstil besonders geachtet: keine Fixseile, keine Bohrlöcher in den Berg und Schlechtwetter nach Möglichkeit in der Wand bis zur Besserung abwarten. Immerhin können sie insgesamt auf vier Gipfelerstbesteigungen und auf zusammen acht neue Routen und Varianten verweisen, die sie mit mehreren Partnern durchführten (mit Toni Ponholzer, Gerold Dünser, etc.). Darüber hinaus gelangen die klassischen Anstiege, wie “Kompressorroute” am Cerro Torre, der Fitz Roy auf mehreren Wegen (u.a.”Casarottopfeiler”), Torre Standhardt erste Winterbegehung, etc.. Dazu natürlich die vielen Versuche am Hauptziel: “Egger-Route” am Cerro Torre, wobei Tommy einmal bis auf 300 m unter den Gipfel gelangte. Außerdem die großen Versuche an der 1400 m hohen Granitmauer der Aguja de la Silla. Tommy war einmal mit Toni Ponholzer schon sehr hoch oben, beim zweiten Versuch mit “Grisu” nur ca. sieben Seillängen vom Gipfel entfernt, ehe ein lang anhaltender Wettersturz letztendlich nach acht Tagen in der Wand den Rückzug erzwang.
In der Ruth-Gorge hingegen können wir auf eine stolze Erstbegehungssammlung zurückschauen. Alle Routen fast ohne Vorbereitung im Alpinstil, natürlich ohne Bohrhaken geklettert. Die zwei herausragendsten sind die 1600m hohe “Winebottle” am Mt. Dickey (VII+,A3+), die von Andi Orgler und Tommy Bonapace mit 5 Biwaks 1988 eröffnet wurde, und der Mt. Bradley – Südpfeiler “Pearl” (VIII-,A3), der 1995 durch Andi Orgler, Heli Neswadba und Arthur Wutscher erstiegen wurde.
Aber auch die anderen Erstbegehungen können sich sehen lassen. Nach dem Mt. Bradley-Ostsporn standen Sepp Jöchler und Andi Orgler als erste Menschen auf diesem Gipfel (1987) und ein Jahr später war die Barrill-Ostwand (VII) durch Andi und Tommy an der Reihe.
Am Werwolf war Andi Orgler mit Klaus Geiswinkler am “Anemonenpfeiler” (VII,A0) 1991 erfolgreich und mit Heli Neswadba und Arthur Wutscher in “Men’s-World” am Hüttenturm (VIII) 1995.
Die beeindruckend glatte Westwand des Sugar Tooth (VII,A2) fiel trotz Schlechtwetter genau so wie der Eye Toot Westpfeiler (VII-) dem Tatendrang von Andi, Tommy und Raimund Haas 1994 zum Opfer.
Heli Neswadba und Klaus Geiswinkler hatten am Dark Spire an den Kichatnas nach 20 Seillängen Wetterpech (VII+) und mussten 100 m unter dem Gipfel umkehren. Man kann ruhig behaupten, in der Ruth-Gorge sind die “Gipfelstürmer” Hausmeister und Andi der Boss!
Eine sich anfangs der Achtzigerjahre entwickelnde Spielart des Alpinismus – das Eisfallklettern – ging natürlich auch nicht an den “Gipfelstürmern” vorbei. Im Gegenteil, unsere Leute haben zum Teil diesen Trend seit Beginn an der Spitze mitgeprägt. Es entstanden EI Dorados für Eis-Kletterer, wie beispielsweise das Pinnistal oder das Gebiet um die Rudolfshütte. War von 1985 bis 87 noch “Männer ohne Nerven” im Pinnistal (Andi Orgler und Martin Wildberger) das Maß aller Dinge, so ist er heute ein “Klassiker” der Mittelklasse. Mit den “Hängenden Gärten” (Andi Orgler und Otti Wiedmann) waren es wieder “Gipfelstürmer”, die 1988 den damals schwierigsten reinen Eisfall Tirols eröffneten. Im gleichen Jahr gelang Andi mit Manni Ferchl der Seespitz-Riss, die damals schwierigste Mixed-Route im Land. 1989 war Andi Orgler mit Sepp Jöchler beim internationalen Eisklettertreffen im Val Daone. Dort glückte den beiden ebenfalls eine “Hammer-Erstbegehung” – “Gran Scozzese”. Die “Metamorphose” im Pinnistal (eine nur millimeterdicke Eisschicht auf fast senkrechtem Fels mit Eisunterbrechungen) war 1991 die absolute Grenze, die Andi Orgler mit Ch. Wieland schaffte. Wurde mit “Land am Strome” (Orgler. P.Haas) 1991 erstmals Eis mit 6+ bewertet, so gab es 1992 an der Himmelsleiter” (Orgler und Wiedmann) sogar eine 7- für die Eisbewertung (beide Routen im Pinnis). Routen mit Felspassagen und Weiterweg an frei hängenden Zapfen mehrten sich und schraubten die höchsten Bewertungen in die Höhe. Die “Rotzglocke” neben den “Hängenden Gärten” (Orgler/Carlos Wagner) 1998 war ebenfalls mit A1, 7- zu bewerten. Nur der “Komet” (Orgler/Neswadba) 1997 übertrifft die vorgenannten Führen.
Die Felserschließungsgeschichte der Stubaier Alpen, die in der Nacherschließungszeit ihre Höhepunkte im Riepenpfeiler 1980, weiters vielleicht in der Obernberger Tribulaun-Nordwand 1982 (“Der Himmel kann warten” VII) und 1983 (“Grauen, Gruseln, Gänsehaut” VII, A0) durch Andi Orgler und der lange geplanten und 1990 durchgeführten 1. Beg. von “Chaos” an der “Kastenwand” an der Illmspitze (Orgler/Wiedmann VIII-) hatte, fand einen vorläufigen Abschluss. Dies nicht nur soweit es die “Gipfelstürmer” betrifft, nein auch ganz allgemein und das sagt eindeutig aus, dass die Kletterer immer mehr den vom schlechten Ruf gezeichneten Stubaier- und Köglfels zumindest derzeit meiden.
1995 waren “Grisu” und Harry Riedl mit dem unserem Klub sehr nahe stehenden Jo Lugger und anderen in Grönland am “Apostel Tommelfinger” erfolgreich, siehe auch Bericht.
1996 gelang dann Sebastian Ruckensteiner am Cho Oyu (8201 m) ein echtes Meisterstück auf einem Achttausender. Im Westalpenstil durchstieg er mit dem Spanier Oskar Cadiach die unberührte NW-Pfeilerroute, die schon Versuche vom großen Schweizer P. A. Steiner hatte. Zusammen mit der Masherbrum-Aktion 1985 sicher das Beste, was bisher von “Gipfelstürmern” auf Sieben- und Achttausendern erreicht wurde.
Im Sportklettern waren bisher hauptsächlich Reinhard Schiestl, Stefan Bichlbauer, Heli Neswadba und Klaus Geiswinkler als Routenerschließer tätig. Im “Dschungelbuch” am Fuße der Martinswand wurden von Reinhard und Stefan eine Fülle von Touren eingerichtet und eröffnet. Als ein High-Light ist heute noch der “Hyperfreiflug” von Stefan Bichlbauer (10-) ein Begriff. Reinhard Schiestl war später durch seinen Wohnsitzwechsel ins Ötztal auf allen möglichen Boulderblöcken und Wänden dieses Tales an der Arbeit. Mehrere 100 Routen ziert sein Name. Vom 5. bis zum 9. Grad reicht die Palette, wobei seine 9er nicht wenige Wiederholer äußerst streng bewertet finden. Nach den tragischen Ableben von Stefan u. Reinhard blieben vorerst als Erschließer nur Heli Neswadba und Klaus Geiswinkler übrig. Heli, der im Klub lange “Mister Zehnter Grad” genannt wurde, war vor allem in Australien und in Amerika für Neurouten bis zum 10. Grad verantwortlich. Klaus Geiswinkler, der auch seit schon geraumer Zeit sich im 10. Grad bewegt, hat einige wirklich großartige Routen erschlossen. Zwei der markantesten waren sicherlich “Dem Frisör ist nichts zu schwör” in Niederthai und die im Jahre 2000 eröffnete 5-Seillängen-Sportkletterroute an der Waidringer Steinplatte “Woher Kompass” (10-) mit Partner Bertram “Baika” Prinz.
Zur Erschließungsgeschichte gehören natürlich auch Skibefahrungen von Steilflanken, Eisanstiegen und Mixed-Wegen. Zu erwähnen wären vor allem die erste echte Skibefahrung der Ortler-Nordwand (bis 65 Grad), der Mayerl-Rinne am Großglockner (bis 70 Grad) sowie der Großen Ochsenwand-SO-Wand durch Andi Orgler. Die direkte Cima di Rosso-Nordwand (bis 58 Grad) wurde von Otti Wiedmann erstbefahren, ebenso die dir. Nordflanke des Hohen Seblaskogel (bis 60 Grad und kurze Felspassagen).
Die Zusammenstellung dieser Auswahl ist natürlich subjektiv und hat keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Einfach ein Überblick über die Meilensteine unserer Erschließungsanteile vom Weg durch die Riepenwand über die Laliderer Nordwand bis zu den Bergen der Welt. Unsere “Jungen Wilden” werden diese Serie fortsetzen, denn dort, wo sie in der Vergangenheit hinaufgeklettert sind, dort gewährt die Gegenwart den Ausblick in die Zukunft.