Orgler Andreas

Published by Otti Wiedmann on

Superalpinist und Tausendsassa
01.01.1962 – 04.01.2007

Drachenfliegen wäre ungefährlicher als extrem Bergsteigen und außerdem weniger zeitaufwändig. Das meinte Andi vor ein paar Jahren und stieg mit vollem Einsatz in diesen ebenfalls abenteuerumgarnten Sport ein, um bald das Klettern völlig zu vernachlässigen. Diese seine Meinung hatte sicher etwas Berechtigtes in sich, aber es gab bestimmt noch andere Argumente. Das Bergsteigen in fast all seinen Facetten hatte er zu einem hohen Grad ausgereizt, aber das Drachenfliegen war eine völlig neue Herausforderung und so was suchte Andi in allen Lebensbereichen.

Dass er es in kürzester Zeit ebenfalls bis mitten hinein in die Weltelite schaffte, war ein Produkt seines großen, vielseitigen Talents, seines Mutes und seiner konsequenten Arbeit. Die Weltmeisterschaften 2007 in Mexico waren sein erklärtes Ziel. Dafür musste er sich bei einem internationalen Bewerb in Australien in einer internen österreichischen Ausscheidung qualifizieren. 17 der 20 Toppiloten weltweit waren am Start dieser Konkurrenz, wobei Österreich ähnlich wie im Skisport, den größten Anteil hat. 2006 war er bereits weltweit der beste OLC Flieger und führte diese Rangliste am Jahresende an. Vor seinem Abflug nach Australien meinte er so nebenbei: „Ein paar Klettertouren mit der Familie und auch mit mir, sollten 2007 schon drin sein.“ Dabei hatte er bereits konkrete Vorstellungen.

Die Nachricht von seinem tödlichen Absturz traf sein ganzes Umfeld wie eiin Keulenschlag ins Gesicht. Er, der scheinbar Unverletzliche, der von den Klippen vieler hunderter, extremer und gefahrvoller Kletterabenteuer in meist souveräner Manier zurückkam, sollte einfach nicht mehr da sein. Nicht vorstellbar, zumindest noch nicht. Zu Vieles ist tiefschürfend gegenwärtig, greifbar, ansprechbar, einfach real vorhanden. Das Unfassbare verdrängt die Angst vor der wahren Realität.

Eines haben wir gemeinsam, die wir uns neben seiner Familie zum Umfeld zählen dürfen: Eine Erinnerung an das Streben und Wirken einer großen Persönlichkeit, an ein intensives Leben, an dem wir teilhaben durften und immer das Gefühl hatten, willkommen und erwünscht zu sein.

Andi war von frühester Jugend an ein Besessener der Berge. Seine ersten Kontakte mit der Alpenvereins-Jugendgruppe „Gletscherflöhe“ waren ihm nach kurzer Zeit zu wenig intensiv, zu wenig abenteuerlich, einfach in allem zu brav. Er schnappte sich einen älteren Bruder Markus und hetzte ihn über verschneite Grate und einsame, steile, meist kaum betretene Bergschrofen. Das war die verwegene Grundschule für spätere Extremklettereien in nicht immer ganz eisenfestem Fels.

Ein für ihn bezeichnendes Erlebnis war die Ortler Nordwand. Andi war 15 Jahre alt und wieder einmal musste Markus, schon wegen des gerade erstandenen Opel Kadett, mithalten. Um Mitternacht fuhren sie von Innsbruck ab und stolperten in der Dunkelheit von Sulden zum Einstieg. Dort wurde festgestellt, dass Markus vergessen hatte seine Steigeisen einzupacken. Andi kannte kein Pardon, Markus musste ohne Steigeisen mitkommen. Die Schwierigen Eispassagen wurde er einfach hinaufgezogen. Einen Rückzug gab es schon damals kaum für ihn. Dies zog sich wie ein roter Faden durch seine ganze Bergsteigerkarriere.

Bald nach dem Ortler Abenteuer kam er zur damals wohl schlagkräftigsten Innsbrucker Jungmannschaft aller Zeiten. Exzellente Kletterer, wie Reinhard Schiestl, Michl Wolf, Robert Purtscheller und Heinz Zak, waren unter anderen vertreten und waren verantwortlich, dass sich Andi den letzten Schliff für alpine Großtaten aneignen konnte.

1980 gelang ihm das erste große Meisterwerk mit der 1. Begehung des Riepenpfeilers im Alleingang. Von der Pichlerhütte aus konnte man seine Kletterei nur im unteren Wandteil beobachten, da später Nebel aufzog und die Wand, vor allem am zweiten Tag bei der Vollendung der Tour, einhüllte. Dies war Anlass genug, die Besteigung des damals letzten großen Kalkkögel Projektes anzuzweifeln. Jene Zweifler wussten damals noch nicht (oder wollten es nicht wahr haben), dass Andi trotz seiner Jugend (18) in Bezug auf Absicherung ohne Bohrhaken weit überlegen war. Auch in puncto Risikoreduzierung bei einer Soloerstbegehung war er allen weit voraus.

Anlässlich eines Versuchs der 2. Begehung, kletterte Andi mit mir etwa ein Drittel der Route und ich konnte überall die Spuren der Erstbegehung sehen, ehe uns ein starker Regenguss mit Übergang in Schneefall zum Rückzug zwang. Bei einer Begehung der NW-Verschneidung querten wir am großen Band nach links und konnten aus sehr nahem Blickwinkel einen Ringhaken mit einer blauen Schlinge, mit einem Holzkeil verbunden, an der letzten Schlüsselstelle des Riepenpfeilers sehen. Nachdem noch keine 2. Begehung bekannt ist, wirft dies die Frage auf, woher denn dieses Material stammt? Dass Andi dieses Unternehmen „drauf“ hatte, wurde zig Mal durch seine Alleinwiederholungen der allerschwierigsten Routen bestätigt. Seine Solo Erstbegehung der Route „Göttlicher Wahnsinn“ (VII+) am Ostspitz der Schlicker Seespitze z. Bsp. wurde von seiner Frau Angelika vom Einstieg bis zum Ausstieg verfolgt und fotografiert.

Heilig Kreuzkofel Mittelpfeiler Schlüsselstelle

1982 war ich erstmals mit Andi in der „Gogna“ an der Marmolada unterwegs und dies war der Beginn einer weit über ein Jahrzehnt dauernden intensiven Kletterfreundschaft, obwohl unsere Altersdifferenz 26,5 Jahre betrug. Wir hatten doch etliche Gemeinsamkeiten, vor allem die Sehnsucht nach Bergabenteuern ohne großen Aufwand und ohne Bohrhaken. Für Andi kam die Benützung von solchen Dingern nicht nur einer Bergvergewaltigung und einer Zerstörung von Idealen gleich: Für ihn war es ein Sakrileg. Laut eigener Aussage war Reinhold Messners schwierigste Kletterstelle die Schlüsselstelle am Hlg. Kreuzkofel Mittelpfeiler, die man durch einen Bohrhaken leicht zu einer Sportkletterstelle mittleren Schwierigkeitsgrades degradieren könnte. Messner zog dort 1968 durch und es dauerte 20 Jahre, bis diese Stelle wiederholt wurde. Es war Andi, der hier als Zweiter durchzog, wobei ich beim Zusehen nie das Gefühl hatte, er könnte stürzen.

Am Jonson Pfeiler in Alaska (mit Mike Rutter) sah er einmal keine Möglichkeit sowohl nach oben oder zurück zum Standplatz des Partners zu kommen. So entstand der einzige Bohrhaken seines Lebens, der seine Handschrift trug. Dies wurmte ihn so, dass es ein Jahr später wieder zum Jonson Pfeiler ging, den Bohrhaken entfernte und dann weiter nach oben kletterte, um einen natürlichen Standplatz einrichten zu können. Diese Linie blieb aber trotzdem nur ein Traum, denn zu viel Steinschlag und mieses Wetter zwangen ihn mit Klaus Geiswinkler zum Rückzug. Einer seiner wenigen Abblitzer an großen Zielen!

Die “Winebottle” am Mt. Dickey – rechts der Bildmitte

Aber die Alaskaberge in der Ruth Gorge mit ihren bis zu 2000m hohen Granitwänden, wurden zum großen Erfolgsgebiet von Andi. Mindestens drei Mal wollte er, dass ich mitkomme. Obwohl ich mich in der Lage fühlte mithalten zu können, traute ich mich letztendlich nicht, die benötigte Zeitspanne von meinem Geschäft fern zu bleiben. Mit Tommy Bonapace gelang ihm am Mt. Dickey der 1600m hohe Pfeiler „Winebottle“ VII+ A3 mit über 50 Seillängen fast ohne Vorbereitung im Alpinstil mit 5 Biwaks.

Mit Sepp Jöchler, Klaus Geiswinkler, Mike Rutter, Thommy Bonapace und Raimund Haas gelangen zwischenzeitlich ebenfalls äußerst bemerkenswerte Erstbegehungen im Gebiet, ehe mit Arthur Wutscher und Heli Neswadba am Mt. Bradley die 1200m hohe Route „Pearl“ VIII- A3 gelang. Diese Südpfeilerroute zeichnet sich im unteren Teil durch gefährliche Eis- und Steinschlagzonen neben großer klettertechnischer Schwierigkeiten aus und ist im zweiten Drittel unheimlich kompakt und steil, mit einigen äußerst gefinkelten technischen Passagen, dem Spezialterrain von Andi.

Nach der Pearl-Erstbesteigung bekam Andi die bedeutendste bergsteigerische Auszeichnung, den „Piolet d‘ Or“ (Oskar des Alpinismus) von der hochkarätigen, hauptsächlich französischen Jury, für seine gesamten Erfolge in Alaska überreicht. Allein die Vorschlagsliste für den seit 15 Jahren jährlich vergebenen Preis, weist die klingendsten Namen aus der Welt des Bergsports auf. Andi Orgler ist der einzige Österreicher, der diese Trophäe erhielt. Im Vorschlag waren z. Bsp. Robert Renzler und Michael Larcher angegeben, die am 7824m hohen Masherbrum im Karakorum an der äußerst steilen und objektiv gefährlichen Nordwand erfolgreich. Achttausender auf normalen Wegen gehörten absolut nicht zu Andis Wünschen.

Unsere gemeinsame bergsteigerische Tätigkeit beschränkte sich auf das Alpengebiet, aber außer Sportklettern war uns jede Facette recht  und Andi weckte sogar mein bis dato nicht gerade üppiges Interesse an Erstbegehungen, die mir aber öfter auf Grund der attraktiven Ziele recht reizvoll schienen. Unser Lieblingsgebiet zum Frühjahrsstart der Felskletterei waren die Calanques bei Marseilles und da gab es einmal eine schöne Überraschung. Wir campierten in der Bucht En Vau und neben uns lagerten zwei junge Deutsche. Bei einer wunderschönen Abendstimmung versuchte sich einer der beiden mit einer Trompete, brachte aber keinen vernünftigen Ton heraus. Andi nahm ihm die Trompete ab und spielte à la Frank Sinatra den Mitternachts Blues. Von allen Nischen der Bucht kam Applaus. Wir alle staunten nicht wenig, wussten wir doch nichts von diesen Kenntnissen, die von einem kurzen Konservatoriums Besuch stammten.

Bewundernswert war auch, wie er es mit seiner charmanten Dauer-Freundin Angelika Stern auf die Reihe brachte , alle seine Berg- und Lebenswünsche, die im Umfang schon als enorm groß zu bezeichnen waren, in harmonischen Einklang zu bringen. Einmal gab es eine Phase, wo Andi eifersüchtig auf eine völlig harmlose freundschaftliche Verbindung Mailand – Schlick war. Geli wurde zum Sprachstudium nach Mailand eingeladen, während Andi beim Klettern nicht ganz bei der Sache war. Ich konnte ihn erst nach einiger Zeit überzeugen, dass er sich völlig unberechtigt Sorgen gemacht hatte.

Eine Überraschung für mich war auch als er mir bei einer Wochenendtour plötzlich mitteilte, dass er ab nun jeden Sonntag um 19h30 zu Hause sein müsste, betreff Kirchenbesuch! Ich dachte, da können nur seine zukünftigen Schwiegereltern dahinterstecken. Mehr als ein Jahr später – bei seiner Hochzeit – wurde dieses für mich merkwürdige Verhalten aufgeklärt. Andi und Geli besuchten – wie immer intensiv – streng geheim ein Rock and Roll Training. Die Überraschung war jedenfalls perfekt als sie nach dem Hochzeitsmahl einen total gekonnten Rock aufs aufgestellte Parkett zauberten! Genau wie ich, hatten auch die meisten Familienmitglieder keine Ahnung. Auch in dieser Lebensphase brachte es Andi bestens über die Runden, Beruf, Familie und seine nach wie vor sehr großen bergsteigerischen Wünsche unter einen Hut zu bringen. Die 24 Stunden eines Tages waren voll durchkalkuliert und für alle zufriedenstellend aufgeteilt. Jedenfalls hörte ich nie Klagen von Seiten der inzwischen nachwuchsbereicherten Familie (Christoph und Clemens) und beruflich engagierte er sich wie in allem: Hundertfünfzigprozentig.

Hängende Gärten 1. SL

All seine bergsteigerischen Highlights in den heimatlichen Bergen aufzuzählen, würde diesen Rahmenvöllig sprengen, daher beschränke ich mich nur auf ein paar der wichtigsten. Neben den bereits erwähnten Solo Erstbegehungen (Riepen Pfeiler und Göttlicher Wahnsinn), war sicher die Kastenwand an der Äußeren Ilmspitze ein echter Höhepunkt. Viele Partner verbrauchte er für dieses Projekt und die Wand schien ohne Bohrhaken und minimiertem Risiko fast nicht machbar. Mich fing dieser Wandmthos an zu interessieren und ich akzeptierte ziemlich freudig, dass er da alles selbst vorsteigen wolle. Mit seiner gekonnte Absicherungs-Raffinesse gelang auch dieses Kunststück und stellte meine bei weitem schwierigste Felsfahrt dar.

Absolute Meilensteine waren auch die Eisfall Erstbegehungen zwischen 1985 und 1997. Routen wie „Männer ohne Nerven“ 1985, oder „Hängende Gärten“ 1988, „Seespitzriss“ 1988 (schwerste Mix Route Tirols), „Himmelsleiter“ VII 7- 1992 (erste 7er Bewertung bei uns im Eis), oder „Komet“ 1997 mit Heli Neswadba A1, 8- (erste 8er Bewertung bei uns), waren bei uns zu diesem Zeitpunkt das Maß aller Dinge. Zu den über 150, teilweise äußerst gefährlichen Erstbegehungen, kommen über 40 Solobegehungen in schwierigstem alpinen Gelände hinzu. Beispiel: Riepen W-Wand, Pflerscher Tribulaun NW-Wand Rainer-Eberharter. Über diese Tour steht im Panico Führer „Stubaier Alpen“: Eine der größten Abenteuerrouten der Stubaier Alpen, sehr brüchig. Auch seine Ski Befahrungen der Ortler N-Wand, der Mayerl Rinne am Großglockner und der Gr. Ochsenwand SO-Wand, sind Alpingeschichte und vermitteln dem Kenner der Szene ein schauriges Kribbeln.

BB-Turm

So nebenbei, als nicht der allerschnellste Student, erwarb Andi das staatliche Bergführerpatent und führte einen Gast durch die Marmolada Südwand (Schwalbenschwanz) und die Eiger N-Wand und war jahrelang Ausbildner bei der Bergführerprüfung. Als ebenfalls exzellenter Skifahrer verdiente er sich als Skilehrer in der Schlick ein Zubrot und ganz naturgemäß und logischerweise war er auch an der Entwicklung von Bergsportgeräten bei Stubai tätig. Der von ihm entwickelte 3D-HMS Karabiner ist immer noch mein Favoritengerät, weil die Seilführung wesentlich perfekter funktioniert als bei herkömmlichen HMS Karabinern. Bei seinem Aufnahmeantrag in unsere Alpine Gesellschaft Gipfelstürmer vermerkte er, dass es ihm Freude bereiten würde in diese „klassenlose“ Gesellschaft aufgenommen zu werden.

Piz Ciavazes – Silvester

Andi

Dieses Kreuz haben seine Flieger Kameraden gebildet während des Begräbnisses in Telfes

Trotz all diesem intensivsten Leben müssen wir uns nun mit der Erinnerung an all dies begnügen, ob wir wollen oder nicht. Andi hat seinen Freunden und seiner Familie in seiner viel zu kurzen Lebenszeit aber all das gegeben, was die meisten anderen in hundert Jahren nicht geben können.

 

Hier noch ein schöner Bericht von Andreas Orgler der tief in seine Seele blicken lässt – der Flug der Zeit.

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