100 Jahre Gipfelstürmer 1911-2011
Ein kleiner Auszug aus unserer umfangreichen Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum.
- Vorwort
- Erstbegehung der Riepen-Nordwestwand
- Die Nordwand des Pflersch#riepennordwestwander Tribulauns
- OeAV-Expedition zur Masherbrum-Nordwand
von Heli Ohnmacht
Lieber Bergfreund und Leser dieser Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum der “Alpinen Gesellschaft Gipfelstürmer”, mögen dir diese Seiten unseren Verein, besonders aber die Seele, die in diesem wohnt, näher bringen.
Ein Blick zurück
So wird es gewesen sein – irgendwo auf einem Gipfel rund um das Innsbruck des beginnenden 20. Jahrhunderts sitzen nach erlebnisreichem Aufstieg durch Wälder, Kare, Rinnen, den morgendlichen Herbstnebel hinter sich lassend, Gesellen in Knickerbocker, einem Janker, den kecken Hut nunmehr abgelegt, mit “Genagelten” über den Schafwollsocken, im Gesicht träumerisch und glücklich, so wie es sich am Titelbild des Einbandes, zwar Jahre später aufgenommen, in tief beeindruckender Weise zeigt.
Der Vorausgriff auf dieses Bild sei gestattet, denn die Empfindungen am Gipfel, tief drinnen im Herzen aller Bergsteiger, waren die letzten 100 Jahre wohl annähernd die selben und werden es vermutlich auch in Zukunft bleiben. Damals, auf diesem Gipfel, haben die Augen zwar in die unbeschreibliche Bergwelt rundum geblickt, die Gedanken sind aber vermutlich, wenn auch nur für Augenblicke, abgeschweift in die Zukunft, träumend und erkennend, dass ihre noch lose, aber anwachsende Gemeinschaft als Bündnis in Form eines Vereines noch mehr bewegen kann und vielleicht besser nach außen sichtbar eine wichtige Funktion im Bereich des extremen alpinen Kletterns und Bergsteigens übernehmen kann. Aus den individuellen Bergerlebnissen sollte etwas Größeres, etwas Wahrnehmbareres, nicht nur im eigenen Tourenbuch geschriebenes, sondern im Kreise Gleichgesinnter erlebtes, diskutiertes und nach außen getragenes werden.
Dabei war die kleine Fahne, die sie auf jedem Gipfel bis zum Beginn des Abstieges hissten, bereits ein Zeichen dafür, das Gemeinsame, Verbindende sichtbar nach außen zu leben. Dass diese Fahne damals die Farben schwarz-rot-gold trug war ein kulturelles Zeichen der Zeit, ein Zeichen der Zugehörigkeit zur deutschen Kultur und Sprache in einem Vielvölkerstaat, der bereits angezählt war. Es war für diese klassenlosen Bergvagabunden nichts darüber Hinausgehendes, soweit wir dies aus Chronik, Überlieferung und Literatur heute noch nachvollziehen können, nichts politisches oder gar rassistisches. Nicht die Politik stand im Vordergrund, die Berge waren ihr Denken, Handeln und Fühlen.
Und so sollte es doch über diese Fahne als äußeres Symbol hinausgehen, dachte der eine oder andere auf diesem Gipfel irgendwo rund um Innsbruck und man begann über einen Namen nachzudenken, vielleicht beim Abstieg durch Latschenfelder, wo der Blick auf die Gipfel rundum nicht mehr ablenkte und man vor sich hinträumen konnte. Die bereits zuvor gegründeten großen und kleinen Vereine orientierten sich mit ihrer Namensgebung überwiegend an Berggruppen, der englische “Alpine Club”, der ÖAV und DAV und der SAC beanspruchten ihrer Größe angemessen gar die gesamten Alpen, die kleinen Innsbrucker Vereine waren da bescheidener. Sie bezeichneten sich überwiegend nach lokalen Berggruppen, wie “Karwendler”, “Wettersteiner”, “Kalkkögler”, aber auch “Eichkatzler”, quasi die Nordtiroler “Scoiattoli”, ja sogar die “Glockenhofer” gab es damals noch.
Die Gründungsversammlung fand am 10. November 1911 im Gsth. “Oberrauch” am Wiltener Platzl statt, in deren Verlauf “Vereinsgründer” Konrad Schuster zum ersten Vorstand gewählt wurde. Im Bild v. l. n. r. Alois Hampl, Josef Gheri, Konrad Schuster mit Verband im Gesicht, Ignaz Ertl, August Hesse und Karl Eisendle. Die restlichen Gründungsmitglieder waren Engelhart Egger, Ferdinand Loos, Franz Harnslack, Heinrich Zikan und Robert Amon. Die “Gipfelstürmer” legten offenbar die Dynamik in ihren Vereinsnamen, von der sie beseelt waren und so wirkte er sicher in seiner Art auch revolutionär. Vielleicht sollte er darüber hinaus visionär klingen und waren in diesem Namen bereits die Träume von künftigen Erstbegehungen durch noch jungfräuliche Wände verpackt, Träume, noch unmöglich Erscheinendes in dieser schönsten aller Welten, der “Bergwelt”, wahr werden zu lassen, stürmen wollte man damals, erobern, bezwingen diesen Freund und manchmal den scheinbaren Feind den, “Berg”.
Und so kam es zur Gründung des Vereins durch 11 Mitglieder unter der Leitung von Konrad Schuster am 10.11.1911 im Gasthof “Oberrauch” am Wiltener Platzl mit dem Namen “Deutsch alpine Gesellschaft Gipfelstürmer”.
Nachfolgend ein Auszug aus unserer Vereins-Chronik:
Der Name “Gipfelstürmer” sollte revolutionär wirken in der damaligen Zeit, in der zwar schon mehrere kleine Bergsteigervereine bestanden, die jedoch eine wenig fortschrittliche Auffassung über “Bergsteigen” besaßen. In der Tat gelang es auch der jungen alpinen Gesellschaft einen revolutionären Schwung in die Auffassung über “Bergsteigen” der damaligen Innsbrucker Bergsteigerwelt zu bringen.
Die Gipfelstürmer unter den Bedingungen zweier Weltkriege und der schweren Zeit dazwischen
Nicht auszudenken, wie es mit dem Erstürmen der Gipfel und den Wänden, Kanten, Verschneidungen, einfach allem, was zwischen den Gipfeln und den Karen liegt, weitergegangen wäre, hätte nicht dieser schicksalshafte, sinnlose 1. Weltkrieg begonnen. Mit Begeisterung waren viele in diesen Krieg gezogen, mit den nunmehr völlig anders klingenden Motiven auf den Lippen, wie “Serbien muss sterbien” oder “Zu Weihnachten sind wir wieder zuhause”.
Aus Träumen wurden jedoch Albträume in nassen, kalten Schützengräben, gegraben in einer Welt, die nicht die ihre war, für Gott, Kaiser und Vaterland. Aber ohne ihre Lieben und ihre Berge konnten ihnen vermutlich alle drei bald gestohlen bleiben, als ein Weihnachten nach dem anderen verging, ohne für immer heimzukommen zu den Ihren, zu den Bergen, kurz zu den Lebensinhalten, die ihnen alles bedeuteten.
Nicht auszudenken, wie es weiter gegangen wäre, hätte da nicht die wirtschaftliche Situation der Zwischenkriegszeit, der Irre aus Braunau und mit ihm der 2. Weltkrieg einschneidende Veränderungen mit sich gebracht. Der Verein wurde gebeutelt, Eintritte und Austritte wechselten sich ab, es gab Differenzen, die nur mühsam durch eine starke Hand bereinigt oder auch nicht bereinigt werden konnten. Es gab aber auch “Gipfeler”, die relativ unbeeindruckt davon die Zeit der Arbeitslosigkeit nützten und mit Polenta und Wein durch die Dolomiten zogen, so erzählten es jedenfalls die Alten.
Da gab es aber auch einen “Gipfeler”, nämlich Hannes Schmidhuber, der nachweislich einen jüdischen Bergsteiger als Berggefährten hatte, es gab einen Kommunisten im Verein und halt auch dem Trend der Zeit folgend anders gesinnte, insgesamt doch gemäßigt agierend für den Druck der damaligen Zeit. Aber alle hatten sie das alles überlagernde, relativierende, von allen gemeinsam getragene Lebensziel und nur dies zählte. Wäre dem nicht so gewesen, könnten wir nie und nimmer das 100 jährige Bestehen feiern.
Gedanken an Hannes Schmidhuber (1908-1953) von Herbert Ohnmacht (1961)
Auf einem der vielen Schotterbänder vollzog sich sein Geschick. Wir brachten ihn zu Tale, über Rinnen, vorbei an knorrigen Latschen, über herbstliche Wiesen, durch farbige Wälder. Wie ein Kleinod beschützten wir ihn auf dieser letzten Fahrt durch seine Welt.
Die Mitglieder im Laufe der Zeit
Rückblickend muss man schon feststellen, dass sich in den Köpfen hauptsächlich der Hang zum Erlebnis im extremen Bereich verankert hatte. Warum? Im Grenzbereich beginnt doch eine eigene Intensität des Erlebens, mit jeder Faser lebt man, erlebt Wechselbäder der Gefühle, blitzartig ganz oben und ganz unten zu sein. Es geht etwas Unbeschreibliches vor sich, einmal erlebt heißt nie mehr wieder oder verfallen zu sein. Nicht Bierhenkel in den Wänden waren das Ziel, nein, die kleinen Löcher, schmalen Leisten, Ritzen wo man gerade noch einen Finger hineinbrachte, möglicherweise unter einem Überhang, waren das Aufregende und Maßstab für die innere Bewertungsskala.
Die Überwindung dieser selbst gewählten Hindernisse war Maß-Stab für das Glück am Ausstieg, für das Erzählen in der Kneipe, Das noch einmal erleben im Kreise von Freunden die gleich empfanden, wo man nichts erklären musste.
Je kleiner die Löcher, je spürbarer der Luftzug, je knapper an der Grenze, umso wilder die ungezügelte Freude, eine übrigens hochansteckende Krankheit mit unbegrenzter Inkubationszeit und ohne Gegenmittel. Nur eines gab es, das in der Lage war vorübergehend zu bremsen, was zumindest kurzfristig wirkte, dann nämlich, wenn ein Freund diese Grenze überschritt. Nachdem sie jedoch nach einer Zeit der Besinnung wieder zurückkehrten, spürbar in unser Inneres, fanden wir die einfachste aller Lösungen – wir nahmen sie mit hinauf auf unseren Touren, dorthin, wo sie einmal glücklich waren. Dann erschallte wieder der legendäre Gipfeler-Urschrei “Wia miar heit wieder guat beinand sein!” und das Echo war mit uns.
Gedanken an Ernst Jaitler (1930-1952) von Toni Braun (1961)
Dann die unvergesslichen Sylvesternächte im Karwendel. Sternennacht vor der Kastenalm. Ein gelbes, erleuchtetes Fenster und blaue Schatten. Darüber ergreifend hoch und ferne die winterlichen Wände unserer Heimat. Mit dem jungen Tag steigen wir wieder hinauf in die Sonne, immer wieder, immer wieder, Ernst. Ein Glas jungen, perlenden Weines auf dich und unsere Jugend, die schön war und funkelnd.
In der Hütte oder im Tal, da konnten wir feiern, ja, im Feiern waren wir Weltmeister Zu Beginn noch gern gesehen, wurden wir manchmal, nein, oft, zum Albtraum der Wirtsleute, es war aus heutiger Sicht oft schrecklich, aber es war halt so, wir haben die Zeit genutzt und erlebt, was heute nicht mehr denkbar wäre. Es war einmal eine Wirtin, die auf unseren Abschiedsgruß “Wiederschaugn Wirtin” trocken antwortete “Hell wansch i miar netta”.
Fragen nach dem Sinn des Bergsteigens, noch mehr des Kletterns oder gar des sich an der Grenze des physisch und psychisch noch Möglichen zu bewegen, wurden von akademisch analysierenden Alpinisten häufig gestellt und philosophische Antworten gesucht, gefunden und manchmal auch wieder verworfen. Eine Eigenheit der “Gipfelstürmer”, wie ich sie seit 55 Jahren erlebt habe, war und ist, dass ein tiefergehendes Hinterfragen seine Grenzen hat, ich habe den Eindruck gewonnen, es war einfach nicht notwendig, etwas was man zum Sein braucht wie die Atemluft über Gebühr zu hinterfragen, man tat es.
Waren wir alle nur extrem und nur den Felsen und dem Eis verfallen? Überwiegend eigentlich ja, mehr als 2/3 der Mitglieder waren in ihren guten Jahren in der Lage, Schwierigkeiten über dem V. Grad zu bewältigen. Aber wir hatten zu allen Zeiten auch Mitglieder, die auch oder nur andere Interessen hatten wie Bergwandern, Bergsteigen im üblicheren Sinn oder im hochalpinen Bereich, an den Achttausendern des Himalaya, Wasserfallklettern, Eisklettern, natürlich im Winter die Schitouren in allen nur erdenklichen Varianten, Segelfliegen, Paragleiten, Canyoning.
Im Drachenfliegen hatten wir sogar Weltmeister und einen Verlust, den viele von uns noch immer nicht überwunden haben. Die Wüsten dieser Erde haben gelockt wie auch das Wildwasser im Kajak auf den Flüssen des Karakorums rund um den Nanga Parbat, wie am Amazonas umgeben von Regenwäldern und bunten Kolibris. Das Segeln auf den Meeren, sogar mit eigenen Schiffen hat fasziniert, obwohl man oft an irgendeinem aus dem Wasser ragenden Felsen in den Kornaten anlegen musste, damit das Klettern ja nicht vernachlässigt wird. Ein Liebhaber der Bergblumen und der Mineralienwelt ist bei uns genauso geachtet wie der wilde Hund, denn es zählt ja die Liebe zur Natur in ihrer ganzen Vielfalt, aber natürlich besonders zum Berg und diese Liebe hat letztendlich viele Facetten. Wir hatten und haben kein alpines Kastenwesen, auch wenn wir “Gipfelstürmer” heißen.
Es ist jedoch nicht nur die Liebe zum Berg, die permanent ein Band schmiedet, es ist auch die gelebte Verantwortung für Bergfreunde in alpiner Not, welche uns im Sinne der Ausübung des Bergrettungsgedankens verbindet. “Gipfelstürmer” haben wesentlich an der Entwicklung der Bergrettungsidee zum heutigen Stand, vielfach in höchsten Positionen stehend, mitgewirkt und waren aus extremsten Bergungen nicht wegzudenken. Die Ehrung mit dem “Grünen Kreuz” war für nicht wenige unter uns das Dankeschön für Einsätze, durchgeführt gemeinsam mit Gleichgesinnten aus der Tiroler Bergsteigerfamilie, nicht selten eindeutig jenseits des Zumutbaren.
Dieses Gefühl der Zusammenhörigkeit spüren viele von uns ganz besonders anlässlich der alljährlichen Totengedenktour bei unserem “Stoan”, unter den Kletterrouten der Kleinen Ochsen, die Vergangenheit steht da über unseren grauhaarigen Köpfen, wie der nasse Überhang – von Vögeln verschissen – über dem zweiten Band, die Schlüsselstelle des Gipfelstürmerkamins. Umgeben von Freunden, Angehörigen von Freunden die uns verlassen haben, die aber um uns herum wahrgenommen werden können, wenn auch schemenhaft, pflegen wir regelmäßig dieses Ereignis der Besinnung.
Dieses verbindende Band hält und zeigt sich da in Worten, Blicken einem Händedruck. Wenn wir dann das nunmehr eiserne Buch aufklappen, in welchem die Namen unserer Freunde stehen die diese Grenze des Seins überschritten haben, der “Virstand” ein paar Worte spricht und der Cantus gesungen wird, dann spürt man etwas von dieser Gipfelstürmerseele, sie ist dann ganz nah und verbindet alle, die vor dem “Stoan” und die, die in den metallenen Seiten der Erinnerung verewigt sind.
Pflerscher Tribulaun, Bericht Toni Braun 1961
Wenn man von Pflersch über die steilen Wiesen hinaufsteigt zum Fuße des vom Pflerscher Tribulaun herabziehenden Westgrates, so berührt man auf halbem Wege eine Gruppe kleiner, rostbrauner Stadel. Hier sitzen wir schweigend unter den Sternen. Um uns der Duft von frischem Heu, weit unten die Lichter und über uns die tief blaue Kulisse der Tribulaune. Leuchtkäfer in den Gräsern und ein lauer Wind – Juni. Und dann der Mond – silberne Gletscher und Felsen. Unwirklich wie ein schöner Traum, über uns die morgige Himmelsleiter. Schmal und scharf zwischen Mondlicht und Nacht der elendslange Südost-Grat.
All dies hat natürlich die Beziehung der Mitglieder untereinander geprägt, wie sie nunmehr seit 100 Jahren gepflegt wird. Wir leben diese Beziehung in vielfältigster Weise und müssen sie nicht analysieren, wir kommen aus allen Gesellschaftsschichten ein Mix von allem wie ein gesunder, bunter Mischwald, eine vielfältige Symbiose, aufgebaut auf Toleranz, Achtung, und der gemeinsamen Sehnsucht, nicht Titel zählen noch Geld, der Mensch ist`s der Gleichgesinnte, vom schmerzlich vermissten “Totengraber” hin bis zum Unversitätsprofessor. Nie habe ich in 55 Jahren ein abfälliges Wort, eine Geste oder sonst einen Hinweis auf eine Überheblichkeit wegen sogenannter Standesunterschiede erlebt, wohl aber heiße Gefechte über unterschiedliche Auffassungen der Bewertung einer Klettertour.
Die Zeit nach den Kriegen bis heute
Nach dem 2. Weltkrieg, nach der Bewältigung der Nachkriegszeit, ging es in den 50er Jahren aufwärts im Verein, schubweise kamen junge, begeisterte Kletter- und Bergnarren zum Verein und überrollten förmlich die Alten, sie übernahmen den Verein in überzeugender und mitreißender Art. Die Augen funkelten, wenn sie erzählten, von den Touren, den Erstbegehungen, den Erlebnissen in den Wänden, Kaminen, Verschneidungen in den Dolomiten, im Wetterstein, im “Koaser”, den Westalpen; da war es dann still im Vereinslokal. Es schuf Verlangen nach mehr, nach Neuem, Bündnisse wurden geschmiedet, heimliche Ziele vereinbart und erlebt, war das eine schöne Zeit.
Aber sie sollte nicht enden wollen diese Zeit, sie setzte sich fort, die Neuzugänge waren zwar älter als früher, aber nicht weil sie Spätberufene waren, nein, es war die gesellschaftliche Entwicklung die dies mit sich brachte, die Individualisierung und die vielfältigen Möglichkeiten in allen Bereichen des Lebens, sie haben verändert.
Nicht verändern konnte der Fluss der Zeit den Geist der “Gipfeler”, die Ziele blieben im Grunde dieselben, sie wurden nur höher gesteckt und noch ehrlicher bewältigt, aber es war immer das verinnerlichte Anliegen, das nicht zur Schau gestellt werden sollte, nicht ein Profitdenken, vielleicht aus medial motivierten, selbstdarstellerischen Gründen. Im Westalpenstil die Gipfel der Welt zu stürmen, wenn möglich unerkannt, das Erlebte nicht hinausposaunen und damit vermutlich den inneren Wert verwässern das war´s, ist´s und bleibt´s.
Erinnerungen von (und an) Reinhard Schiestl
Immer schwerer sollten sie sein – die Touren. Ja, es freute mich – aber es war eine andere Freude, eine ganz andere Freude als die davor. Und ich vergaß das andere Glück – nur manchmal war ich etwas traurig, doch ich musste klettern, schwere, sehr schwere Touren. Und dann wussten es alle, dass ich schwere Touren gehe . . . das freute mich. Aber dann packte ich allein meinen Rucksack – er war fast leer. Und jetzt lief ich und sprang und lag in der Sonne und war glücklich, glücklich . . . Und ich wusste, dass ich die alte Freude wieder gefunden hatte.
Die auf diesem Gipfel, irgendwo rund um Innsbruck im angehenden 20. Jahrhundert, angedachten Träume wurden im Verlauf der 100 Jahre des Bestehens mehr als verwirklicht, dies von einer klassenlosen, real unpolitischen aber grenzenlos bergverrückten und süchtigen Bergsteigerschar, ja doch Bergsteigerelite. Als hätte es nur dieser Gründung 1911 bedurft, gab es bereits im Jahr 1912 die ersten Erstbegehungen, die Aufsehen in der alpinen Welt erregten und war damit der Grundstein gelegt zu einem Lebensziel der “Gipfelstürmer”, welches heute noch bestimmend ist und, so hoffen wir, immer bleiben wird.
In der Festschrift zum 90-jährigen Bestehen habe ich meiner Hoffnung und Zuversicht Ausdruck verliehen:
Seid unbesorgt, wir werden dieses Leben gemeinsam weiterleben wie bisher, der Geist in unseren Köpfen und die Gefühle in unseren Herzen sind stark wie nie zuvor und der Verein geht gesichert ins letzte Dezenium des ersten Jahrhunderts der Vereinsgeschichte.
Nunmehr geht der Verein der “Alpinen Gesellschaft Gipfelstürmer” gesichert in das zweite Jahrhundert, dies mit derselben Zuversicht und Freude wie eh und je. Und so verbleibt mir abschließend nur noch den Wunsch zu übermitteln, dass alle eure Träume in Erfüllung gehen mögen und uns allen noch viele Erlebnisse in dieser schönsten aller Welten, der “Bergwelt” beschieden sein mögen.
Westliche Zinne, Nordwand, “Schweizer-Weg”, 2. Begehung durch Robert Troier
Und wenn ich heute die Narbe an meiner linken Hand sehe, die mir als bleibendes, sichtbares Andenken an diese zweite Begehung des Schweizer Weges in der westlichen Zinne geblieben ist, dann ziehen an meinem Auge immer wieder die Szenen unseres dreitägigen Kampfes vorüber und erfüllen mich mit stiller Freude, weil sie für uns Bergsteiger die Befriedigung unserer Sehnsucht sind und in der Bewährung Höhepunkte des Lebens.
Erstbesteigung der Riepen-Nordwestwand am 19.Juli 1914
Originalbericht von Konrad Schuster
Mit der Durchsteigung der Riepen Nordwestwand gelang der Gipfelstürmerseilschaft Schuster, Aichner, Netzer und Hummel eine Kletterfahrt, die zu einem Meilenstein in der Geschichte des Tiroler Bergsteigens wurde, gab es doch zur damaligen Zeit
außer der “Herzog-Fiechtl” in der Schüsselkarspitze und der “Dülfer” am Totenkirchl kaum einen ähnlich kühnen Felsgang in Tirol. Bereits 1913 gab es durch Konrad Schuster, Luis Hampl, Karl Hagspül und Arthur Frank einen gescheiterten Versuch und, wie dem Bericht von Schuster im Hüttenbuch der Adolf Pichler-Hütte zu entnehmen ist, wurde der Erfolg auch bei zwei weiteren Versuchen vorerst durch mehr oder weniger weite “Flüge” vereitelt. Das Original des von Konrad Schuster verfassten Berichtes befindet sich im Museum “Ferdinandeum” in Innsbruck und, wie dem Foto auf der linken Seite gut zu entnehmen ist, der Zahn der Zeit hat bereits stark an demselben genagt. Deshalb konnten von der ersten Seite des Berichtes die letzte Zeile und von der zweiten Seite die zwei oder drei untersten Zeilen nicht vollständig übersetzt werden; diese sind nicht mehr oder nur in Bruchstücken vorhanden. Auf eine Interpretation wurde verzichtet, denn Wiederholer dieser Kletterfahrt wissen ohnehin, welche Stellen Schuster da beschrieben hat. Anschließend nun der Originalbericht aus dem Hüttenbuch:
1. Ersteigung über die Nordwand am 19. Juli 1914
Vom Einstieg zur Riepenscharte sieht man in der linken Wandhälfte einen großen Überhang, der durch herausbrechen von großen Platten entstanden ist. Unterhalb dieser Überhänge sieht man in die Wand zwei Bänder nach rechts hineinziehen. Zuerst wird das untere Band 15m verfolgt, bis man durch eine Runse auf das obere gelangt. Dieses wird nach rechts 20m begangen. Hier setzt ein sehr schwerer Riß an, welcher 20m in die Höhe führt, auf eine kleine Kanzel (nur 2 Personen haben Platz). Jetzt scheint jeder Weiterweg ausgeschlossen. Eine Wandpartie baut sich hier auf, welche keine Griffe und Tritte aufweist. Dieselbe hat nur 2 fingerbreite Moosritzen und in dieselben müssen nun Stiften getrieben werden, bis man nach 10m auf einen Überhang und links …. hier fehlt 1 Zeile des Originalberichtes.
…. Zugstemme zu überwältigen, um nach weiteren 5m auf eine kleine Kanzel zu gelangen (diese 15m hohe Wandpartie kostete uns 1½ Stunden). berhalb einer kurzen Wandstufe setzt jetzt ein schiefer Riß an, welcher sich von links nach rechts hinauf zieht auf ein breites Band. Um nun den nächsten Riß zu erreichen muß eine sehr schwere Traverse nach links geführt werden (6m) zu einer Nische (hier Steinhaube). Hier setzt der Riß mit einem Überhang an und führt nach 15m auf ein breites Band, infolge seiner Brüchigkeit nicht leicht, wird dasselbe 40m nach rechts verfolgt * bis es in eine außergewöhnlich schwere Leiste übergeht, welche 30m lang ist (an dieser Stelle scheiterten unsere ersten zwei Versuche, indem beim ersten Versuch Konrad Baumgartner 40m fiel und beim zweiten Versuch Luis Netzer 15m weit die Luftreise antrat). Ich möchte vorschlagen daß nun diese Traverse Baumgartner-Netzer Traverse genannt wird. Nach 30m setzt das Band wieder breiter an und führt auf eine Kanzel † welche von herunten sehr gut sichtbar ist (sie befindet sich dort wo ein schwarzer Riß [durch den immer Wasser rinnt] ansetzt, der von links nach rechts die Mitte der Wand hinaufleitet und dann in der …. hier fehlen 3 Zeilen des Originalberichtes
… erklettern und nach einer Stunde schon wird der Grat links vom Gipfel erreicht. Die Dauer dieser außergewöhnlich schweren Kletterei beträgt 9 Stunden. Vom Einstieg bis zur Leiste auf die Kanzel 3 Stunden. Die Leiste (30m) selbst erfordert 4 Stunden, eine ungemein lange Zeit, welche dadurch hervorgerufen wird, dass dieselbe an den Grenzen der Möglichkeit liegt. Sicherungsstiften befinden sich bei jedem Absatz. Nur bei der senkrechten Wandpartie wurden dieselben durch den Letzten herausgenommen, bis auf einen welcher sich unter dem Überhang befindet. Dort wo die Leiste zur Kanzel hinüber ansetzt, befinden sich 4m höher wieder zwei Stiften, ebenfalls auch auf dem Band ein Stück. In der Leiste sind zwei Stiften mit Karabiner und auf der Kanzel 1 Stück. der letzte Stiften befindet sich oberhalb der schweren Kamine.
Die Nordwand des Pflerscher Tribulauns
Konrad Schuster
Schon vor dem ersten Weltkrieg umwarben Mitglieder unserer Gesellschaft mit viel Erfolg die Tribulaungruppe. Obernberger Tribulaun-Nordwand, Schwarze Wand-Ostwand, Roßlaufspitze-Westwand, Gschnitzer Tribulaun-Westwand und Südwand sowie Mühlsteigerturm-Südwand wurden erstmals durchklettert. Mit dem Verlust Südtirols war dann die Südseite für uns gesperrt. Nun aber fielen die Riesenschlucht durch die Westwand des Gschnitzer Tribulauns, die direkte Nordwand des Pflerscher Tribulauns, die Goldkappl Nord- und Ostwand sowie die mauergleiche Nordwestwand des Pflerscher und nach dem Kriege noch die direkte Südwand desselben Berges.
Ich möchte in diesem Rahmen von einer Bergfahrt auf den König der Gruppe erzählen, von der ersten Ersteigung der direkten Nordwand des Pflerscher Tribulauns. Bei einer Erkundungsfahrt waren wir auf das Sandesjoch aufgestiegen, um den Gipfel auf dem Normalweg zu erreichen, als wir von der italienischen Tribulaunhütte aus beschossen wurden. Ein Betreten der Südseite war verboten, aber wir kamen wieder.
Es war im Juni 1921. Wir errichteten uns aus Latschenzweigen ein Lager auf der Ochsenhütte im Sandestal. Es war noch viel zu früh im Jahr und die Nordwand, der unser Sehnen galt, hatte noch viel Schnee. Nur in der Gipfelfallinie zeigte sich halbwegs trockener Fels. In der Nacht kamen zwei weitere Bergsteiger, so dass es sehr eng wurde und wir froh waren, als die Eiskuppe des Habichts im Sonnenlicht aufleuchtete. Wir stiegen zwei Stunden hinauf zu jenem Pfeiler, den die Nordwand am weitesten ins Sandestal sendet. Bei einem kleinen Schuttband rechts dieses Pfeilers konnten wir im steilen Schnee nur mit größter Vorsicht unsere Schuhe wechseln. Die linke Wandhälfte war wegen ihrer Schneeauflage abzuschreiben, deshalb wollten wir es direkt in der Gipfelfallinie versuchen.
Mit den Vorbereitungen verging eine Stunde und erst um acht Uhr stiegen wir rechts vom Kamin zwischen Pfeiler und Hauptwand ein. Im Kamin selbst müssen wir dann durch einen Wasserfall und erreichen später eine Kanzel rechts des Kamins. Plattig ist das Gestein und die Kälte macht uns viel zu schaffen. Links des Kamins steigen wir dann in den Wänden des Pfeilers höher. Immer schwerer wird es und weit droben sehen wir einen die ganze Wand durchziehenden Überhang. Nach hartem Kampf erreichen wir den Pfeilerkopf, queren den Kamin und gewinnen rechts ein Schuttband.
Dann aber sind wir am Ende unserer Weisheit. Hier war ein großer Felssturz und höhnisch leuchtet über uns die große gelbweiße Bruchfläche. Umkehren? Da sehen wir rechts an der Kante des Bruches einen ganz feinen Riss. Sehr schwer ist es für den ersten, aber der Weiterweg ist gesichert. Ein versteckter, furchtbar brüchiger Kamin führt auf den Kopf des Turmes, auf dem wir das Gefühl haben, jeden Augenblick mit ihm in die Tiefe zu stürzen. Langsam, sehr langsam kommen wir der Kaminkante wieder näher, eine Beiwacht scheint unausbleiblich. Schräg rechts erreichen wir einen Absatz. Der Weiterweg ist noch kritischer als das Vorangegangene. Eine glatte, plattige Wand, durch die nur ein handbreiter Riss führt, erfordert vollen Einsatz. Nach zwanzig Metern schlägt der erste einen Haken und mit Seilzug queren wir nach links in einen Kamin, der auf einem Turm endet. Rechts hochkletternd, gelangen wir zu einem frei stehenden Felsblock, welcher die erste natürliche Sicherungsmöglichkeit bietet. Die darauf folgende, ungemein brüchige Wandpartie wird, äußerst schwierig, in geradem Durchstieg genommen. Eine schmale, abschüssige Leiste bringt uns nach links, wo wir, weiterquerend, den Felskopf, der den Riesenkamin oben verschließt, erreichen. Wir seilen uns zehn Meter ab und gelangen mit Mühe zu einem Block am Beginn einer Traverse.
Hier durchnässt uns ein Sturzbach aus den darüber liegenden Felspartien und die Kälte macht sich auch sofort unangenehm bemerkbar. Sehnsüchtig schauen wir hinüber zum Felskopf, welcher nur fünfundzwanzig Meter von uns entfernt in der Sonne liegt. Doch es vergeht eine volle Stunde, bis wir dort drüben zur wohlverdienten Rast im warmen Schutt liegen. Es ist vier Uhr nachmittags. Die Ungewissheit drängt uns weiter. Das Sandesjoch liegt schon unter uns und wir glauben schon, leichteres Gelände erreicht zu haben, als sich uns ein neues Hindernis, eine vierzig Meter hohe Plattentafel, in den Weg stellt.
Doch wir kommen Seillänge um Seillänge aufwärts, durchsteigen Schneefelder, queren Felsrippen, und nur die Rufe: “Seil ein, nachkommen!” durchschneiden die Stille. Durch einen Felstunnel erreichen wir nun einen Turm und damit liegt der Weg zum Gipfel offen. Noch einmal wird es schwer, aber dann drücken wir uns beim Steinmann kräftig die Hand, ist doch ein jahrelanger Wunsch in Erfüllung gegangen. Schon ist es dämmerig, aus dem Westen kommt eine Wolkenmasse. Nur noch der Rosengarten leuchtet dort unten im verbotenen Land. Wir wechseln die Schuhe und steigen hinab, wo gleich der Nebel alles unter seine graue Kappe nimmt. Mit ihm kommt auch schon die Nacht.
Biwakieren können wir mit unseren nassen Kleidern nicht, wir müssen uns in Bewegung halten. Vorsichtig durchklettern wir die eiserfüllte Südrinne, queren Schneehänge und gelangen glücklich zum Sandesjoch. Unbarmherzig hängt der Nebel über der steilen Rinne, dennoch sehen wir manchmal blankes Eis durchschimmern. Mit unserem kurzen Eispickel schlägt der jeweils erste Stufen, denn unheimlich steil und glatt schießt der Hang ins Bodenlose. Steine sausen durch die Rinne und unsere müden Finger können das schwere, nasse Seil kaum noch halten. Endlich, nach zwei Stunden, wird die Steilheit geringer und drei müde Gestalten stolpern dem Tale zu. Um 11 Uhr liegen wir dann wieder in unseren Latschen und der Sandesbach singt sein Schlummerlied.
OeAV-Expedition zur Masherbrum-Nordwand
Robert Renzler
Sommer 1982; verdreckt, müde und ausgelaugt durch monatelangen Durchfall stolpere ich auf dem schuttbedeckten Baltorogletscher in Richtung Askole. Irgendwann nach Gore machen wir Rast. Nach wenigen Minuten schon brennen die Feuerchen unserer Träger. Unglaublich, wie schnell sie es schaffen, mit einigen Holzsplittern auf dem Gletscher Tee zu kochen. Sogar im heulenden Schneesturm brachten sie gestern dieses Kunststück zustande. Wir “harten Achttausenderbezwinger” standen wie die Schafe daneben mit dem Rücken zum Wind und schauten neidig zu. “Das wäre eine Wand!” Die Stimme unseres Expeditionsleiters Willi reißt mich aus meiner Apathie. Der Kopf folgt seinem ausgestreckten Arm, und ich sehe durch ein Wolkenloch die Nordwand des Masherbrum: ein senkrechtes Chaos aus Seracs, Felsabbrüchen, Schnee- und Eisflanken, fast unendlich weit droben der messerscharfe Gipfel. Ich muss lachen, so absurd erscheint mir der Gedanke an eine Besteigung. Als wir weiterziehen, merke ich, wie sich dieser Anblick eingeprägt hat.
Herbst 1984, Brixen. Beim Alpenvereinssymposion erzählt mir Joe Bachler, dass er um eine Genehmigung für die Südseite des Masherbrum angesucht hat. Er soll eine Expedition des OeAV dorthin führen, hat aber inzwischen andere Pläne. Ich bekomme wenig später die Leitung angeboten. Für mich steht fest: eine einmalige Chance, die Nordwand zu versuchen. Quasi im letzten Augenblick erhasche ich noch mit Hilfe von Günter Sturm das Permit. Eine hektische Zeit beginnt. In nur vier Monaten startet das Unternehmen, und nichts ist vorbereitet. Keine Mannschaft, zu wenig Geld und dazu noch die Stimmen einiger Himalayaprofis, die mich vor dieser Wand eindrücklich warnen. Ich rotiere zwischen meiner Arbeit im Jugendzentrum, dem Büro des Alpinreferates und manchmal fast demütigenden Förderungsansuchen bei diversen Firmen und Sponsoren.
Mit Hilfe meiner Freundin und der Unterstützung seitens des OeAV schaffe ich es gerade noch. Es geht los! Am 8. Juni trifft sich das Expeditionsteam zum ersten Mal in kompletter Besetzung am Flughafen Frankfurt. Eine DC 10 der PIA bringt uns ohne Zwischenfall nach Rawalpindi. Wir deuten das als gutes Omen, stehen doch die Buchstaben P-I-A bei Insidern für Pakistan Inshallah Airlines. Am ersten Tag schon schwärmen wir im Raja Bazar aus und feilschen mit den ausgekochtesten Händlern der Welt um harte Rupien. Wir versuchen möglichst aus dem Land zu leben und müssen erst einen Großteil der Nahrungsmittel und das gesamte Kochzubehör kaufen. Trotz der mörderischen Hitze von 38°C genieße ich die brodelnde Atmosphäre dieser asiatischen Stadt. Auch das lange Warten im Büro von Mr. Muneerudin, dem zuständigen Tourismusbeamten, und das Nichterscheinen unseres Verbindungsoffiziers Habib – er hat sich soeben verlobt, und der Abschied von seiner Braut dauert natürlich etwas lange – kann mich nicht erschüttern.
Ich habe meine europäische Hektik abgelegt und außerdem: Inshallah – Gott ist mit uns! Meine Freunde befinden sich zum ersten Mal in Pakistan. Ich schicke die verständlicherweise Ungeduldigen mit unserem Reisegepäck über den Karakorum-Highway nach Skardu. Drei Tage später sind wir wieder vereint. Habib konnte sich letzten Endes doch noch losreißen, und so ziehen wir mit 60 Trägern hinein in die Wildnis des Braldutales. Vorbei geht es an den letzten Bergdörfern, wir überqueren den Biafogletscher und erreichen Payu. Vor uns liegen in der Abendsonne die phantastischen Granittürme des Trangomassivs, zu Stein gewordene Kletterträume. Nur ungern ziehen wir am nächsten Tag an ihnen vorbei. Im Geist hat jeder von uns schon seine Linie durch die riesigen Wandfluchten gelegt. Vielleicht klappt es irgendwann. Als wir Urdukas erreichen, regnet es in Strömen. Unsere Träger schlagen sich tapfer. Besonders Rasul, unser Koch, Sirdar und Mädchen für alles, ist ein Haupttreffer. Ich mag ihn, und er weiß das auch. Manchmal nutzt er seine Sonderstellung aus, wird aber nie unverschämt. Es scheint uns, als kenne er jeden Träger hier. Den gesamten Anmarsch über betreibt er nebenher einen schwunghaften Handel mit allen möglichen Sachen, darunter auch mit Teilen seines Kücheninventars.
Heute sagt er uns mit entwaffnender Ehrlichkeit, wer von uns den Gipfel erreichen wird. Wir lachen, aber der Stachel sitzt. Der Regen vermischt sich mit Schnee. Wir verlassen den Baltoro-Gletscher. Im Nebel können wir nur schwer einen halbwegs begehbaren Weg in das Mandu-Tal ausmachen. Lawinen rauschen von den Hängen. Die Träger schnattern ängstlich und aufgeregt. Ein Streik liegt in der Luft. Ich setze mich vorsichtshalber an die Spitze, da ich weiß, dass mir die Baltis folgen werden. Schließlich trage ich in meinem mit Rupien vollgestopften Rucksack ihren Trägerlohn. Auf einem Gletscherrücken in der Mitte des Tales errichten wir das Basislager.
Das Wetter wird schön
Die Mannschaft sitzt verteilt im Tal und beobachtet die Wand. Die Riesenhaftigkeit dieser senkrechten Landschaft überwältigt uns. Die übermütigen Sprüche verstummen. Wir erkennen, auf was wir uns da eingelassen haben. Immer wieder brechen Eistürme zusammen. Lawinen rasen mit gnadenloser Schnelligkeit über die Felsplatten. Über hundert Meter hoch wälzen sich die Wolken aus Eisstaub bis an die gegenüberliegende Talseite. Diese Ungetüme aus Schneekristallen und Luft zermalmen unsere Illusion von einer sicheren Route, nagen an unserer Zuversicht und Begeisterung. Abends diskutieren wir lange in unserer aus zwei Zeltplanen und Steinen gebastelten Küche. Schließlich einigen wir uns auf einen 1.200 m hohen Pfeiler aus Fels und Eis im linken Wandteil. Über ihn wollen wir den Grat erreichen, der hinauf zur Schlusswand leitet. Ich spüre, dass unsere zusammengewürfelte Mannschaft sich findet. Danach trinken wir lange Tee. Wilde Entschlossenheit keimt auf, während draußen noch immer die Lawinen donnern.
“Nobody can stop us” murmle ich in der Morgensonne vor mich hin. Begeistert beobachte ich durch den Feldstecher, wie Michi, Andi, Chris und Hans an Höhe gewinnen. Der Felspfeiler muss schwierig sein. Doch das wollten wir ja: extreme Kletterei und keine endlosen Gletscherhatscher. Die Blicke wandern weiter nach oben, vorbei an wolkenkratzerhohen Eisabbrüchen bis hinauf zur äußerst steilen Gipfelwand, suchen dort Risse, Verschneidungen, Möglichkeiten, zu jenem ominösen Punkt zu gelangen, der mit 7.821 m kartographiert ist. Über 7 km Kletterstrecke und 3,5 km Höhenunterschied trennen uns vom Gipfel. Am späten Nachmittag kommen die Freunde zurück. Müde, aber fast euphorisch erzählen sie vom heutigen Tag. Sie haben 700 m geschafft und lange Passagen im oberen V. Schwierigkeitsgrad versichert. Als die Sonne aufgeht, sind Thomas und ich schon oberhalb des Felsgürtels. In der etwa 55° steilen Flanke versuchen wir uns zu beeilen, da immer wieder Eisbrocken neben uns einschlagen. Hoffnungslos! Obwohl wir wie die Irren keuchen und jeder Rest von Energie in die Muskeln fließt, werden wir nicht schneller. Thomas steigt 10 Schritte vor mir in die immer steiler werdende Wand hinauf. Er bleibt stehen und schaut erschöpft nach unten. Jetzt reicht er mir das Ende des Fixseils und grinst dabei aufmunternd. Die 300-m-Seiltrommel, die wir an einem Felskopf befestigt haben, ist bis auf wenige Meter abgespult und zerrt mich fast aus der Wand.
Endlich erreichen wir die abschließende Seraczone. Zerklüftete Mauern aus dunklem Eis, gigantische Überhänge mit mannsgroßen Eiszapfen drohen über unseren Köpfen. Ich bin sicher, dass das Ganze halten wird. Heute fühle ich mich unsterblich. Das Eis ist unheimlich spröde. Fünf-, sechsmal muss ich zuschlagen, bis die Eisgeräte halbwegs verankert sind. Die Spitzen der Steigeisen dringen nur wenige Millimeter ein. Plötzlich ein dumpfes Bersten, ich gleite ab, glaube zu stürzen . . . Ruhe! Der ganze Serac, Tausende Tonnen von Eis, ist ein Stück in sich zusammengesackt inklusive Thomas und mir. Völlig entnervt klettere ich zum Standplatz ab. Vorbei ist es mit der Unsterblichkeit. Die Erde hat mich wieder, und ich bin heilfroh, dass Thomas, ein Eiskletterspezialist ersten Ranges, diese Seillänge führt. Nach einer guten Stunde haben wir es geschafft. 1.100 m Wand liegen unter uns, der Weg zum Grat ist frei.
Rückschlag
Es ist ruhig geworden im Basislager. Thomas und Christoph haben uns verlassen. Rasul begleitet sie bis nach Askole, dem ersten Dorf auf dem Weg nachhause. Alle sechs haben wir vor drei Tagen vom Lager III (6.300 m) einen Gipfelversuch gestartet. Doch die entsetzliche Kälte, die zu schweren Rucksäcke, vor allem aber die ungenügende Akklimatisation haben uns an der 7.000-m-Grenze zurückgeworfen. Beim Abstieg gerieten Thomas und Christoph in eine Eislawine. Unglaubliches Glück ließ die beiden gerade noch entkommen. Der Schock des Erlebnisses saß tiefer als die Schrammen im Gesicht. Es reichte ihnen. Sie wollten nicht mehr einsteigen in das Lawinenkarussell der Nordwand. Wir akzeptieren ihre Entscheidung vorbehaltlos. Nüchtern überlegt, taten sie das einzig Richtige. Aber was heißt schon recht und richtig an dieser Wahnsinnwand?
Regen prasselt an die Zeltwand. Mit der feuchten Kälte kriechen Angst und Zweifel in den Schlafsack. War alles umsonst? Das Spuren im grundlosen Pulverschnee, manchmal bis zur Hüfte versinkend, diese furchtbare Wühlerei bis zur totalen Erschöpfung, die Bereitschaft, das irre Lawinenrisiko auf sich zu nehmen? Klettern in der Masherbrum-Nordwand, das ist wie eine Woche lang Biwakieren unter den Seracs der Poire-Route am Mont Blanc. Irgendwann haben wir die Grenze des Kalkulierbaren überschritten. Doch ich bin kein todesmutiger Held, verspüre nicht den leisesten Wunsch, “vom Becher des Todes zu nippen”, den manche unserer alpinen Vorgänger beschrieben. Was mich weitermachen lässt, ist einfach die gute Beziehung, die ich noch immer zu diesem Berg habe, ist ein irrationales Gefühl, dass mir in dieser Wand nichts passieren kann. Wie ein geprügelter Hund lag ich eben noch im Zelt. Doch schon spüre ich, wie Sisyphos wieder in mir erwacht. Ich werde den Stein, geformt aus Ehrgeiz, Selbsterfahrung und Abenteuerlust, zum Gipfel wälzen. Die Lösung liegt eben an jenem Punkt. Andi haust im nächsten Zelt. “Morgen wird das Wetter schön”, ruft er zu mir seinen täglichen Spruch herüber. Er ist ein unverbesserlicher Optimist. Für ihn steht seit dem ersten Tag fest, dass wir es schaffen werden. Das wirkt wie ein Signal. Wir besprechen uns in der Küche: wenn das Wetter schön wird, werden wir einen Tag abwarten. Warten, bis die Lawinen den Neuschnee halbwegs aus der Wand fegen und dann in der Nacht noch mit dem Allernotwendigsten an Gepäck aufbrechen.
5 Tage später, 7.100 m
Das Wetter wird schön
Wir stellen auf einer kleinen, ins Eis geschlagenen Plattform unser Zelt auf, das Innenzelt allerdings nur. Das Überzelt haben wir in Lager III gelassen, um Gewicht zu sparen und auch einen Schlafsack. Drei anstrengende Tage liegen hinter uns. Die ganze Strecke von über 6 km mussten wir neu spuren. Auch die steilen Fels- und Eispassagen wurden zum größten Teil neu geklettert, da die Lawinen viele unserer Fixseile beschädigt oder weggerissen haben. Jetzt warten wir auf Hans. Wir glauben nicht, dass er es schaffen wird. Seine hartnäckigen Darmbeschwerden ließen ihn einfach nicht in Form kommen, und er konnte das Tempo trotz unserer Spur nicht halten. Er tut uns leid, und wir freuen uns riesig, als er später alleine die Südostwand des Urdukas Peak (5.990m) durchsteigt. Die Schatten werden lang. Nur noch die hohen Gipfel liegen in der Sonne. Mein Blick wandert zum K2, zum Broad Peak, bleibt hängen an der Felspyramide des Gasherbrum II, “meines Achttausenders”.
An jenem Berg schon hat eigentlich unser Abenteuer begonnen. Michi und Andi knabbern an den Brotresten, ich schmelze inzwischen Schnee. Ein kleines Stück Parmesankäse bleibt für das Abendessen. Der Rest unserer Nahrungsmittel löst sich im Schneematsch des Lager-II-Zeltes auf, wo der Sturm den Eingang aufgerissen hatte. Plötzlich hören wir Stimmen. Völlig erschöpft, wie Betrunkene wankend, kommen Japaner von oben. Ich erinnere mich, wie wir sie zum ersten Mal trafen. Die Überraschung über unsere Schnelligkeit stand in ihr Gesicht geschrieben. Vier Wochen vor uns waren sie ins Yermanendu-Tal gekommen mit einer großen Mannschaft und Tonnen von Material. Sie konnten es nicht glauben, dass wir in nur drei Tagen den Grat erreicht hatten vom Mandu-Tal aus, von jener Seite, an der sie selbst einmal wochenlang den Durchstieg versucht hatten.
Unseren Vorschlag zur Zusammenarbeit wiesen sie ab. “Die Ehre Nippons” ließ das nicht zu. Einen Vorsprung allerdings sollten wir ihnen geben. Wir müssten verstehen, der Masherbrum sei “ihr Berg”. Jetzt haben sie es geschafft. Ich freue mich für sie, auch wenn eine “alpinere” Lösung besser gewesen wäre. Die Chronisten werden vom Schreibtisch aus, fern vom Geschehen urteilen. Doch für uns in der Enge des Zeltes spielt das keinerlei Rolle. Wir sollten trinken, literweise, damit das Blut nicht eindickt, damit die heftigen Halsschmerzen aufhören und unser Gekrächze wieder verständlich wird. Leider sind das nur Wunschträume, unsere letzte Gaskartusche ist angebrochen und ein, zwei Becher Tee wollen wir uns für morgen aufsparen. Trotz allem fühlen wir uns stark, vor allem psychisch. Die Enge – wir liegen zu dritt in zwei Schlafsäcken – stört kaum. Fast körperlich fühle ich die Verbundenheit zwischen uns. Freundschaft ist wichtiger als Tee. Nur als Michi einmal von einer rotweißen Coca Cola-Dose schwärmt, drohen wir ihm mit Zeltverbot. Am Morgen verschlechtert sich das Wetter. Nebelschwaden ziehen an uns vorbei, darunter ein paar Schneeflocken. Wir wissen, dass wir jetzt schnell sein müssen, um noch eine Chance zu haben. Der Biwacksack, Zusatzausrüstung, der Kocher, alles bleibt zurück. Ein Dutzend Felshaken, ein Klemmkeilsortiment und die Seile müssen genügen. Wir klettern wie in Trance durch die vereisten Risse und Kamine. Ein Eisfeld! Wir beschleunigen das Tempo, so gut es geht. Weiter! Der Wettersturz droht. Was von diesem Gipfelgang vor allem haften bleibt, ist der Eindruck gewaltiger Anstrengung. Um 12.30 Uhr haben wir es geschafft. Bei Windstille, aber völlig in Nebel gehüllt, lassen wir uns in den Schnee der Gipfelwechte fallen. Sitzend umarmen wir uns. Die totale Leere weicht einer leisen Freude. Der Stein aus jener unbestimmbaren Mischung, Motivation genannt, liegt am Gipfel. Sisyphos kann absteigen im Bewusstsein des Sich-gefunden-habens. Irgendwann wird ihn der Stein wieder einholen.
Nach vier Stunden liegen wir wieder im Zelt. Nachts schlägt das Wetter um. Zuerst kommt Regen dann Schnee. Die Odyssee in der Masherbrum-Nordwand geht weiter. Eine Odyssee, die uns an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit bringt. Ein Abstieg über fast 3.000 Höhenmeter im Schneesturm zwischen Lawinenrutschen hindurch führt uns zu den Lagern. Wir nehmen alles mit, wollen den Berg sauber hinterlassen. Das Gewicht unserer Rucksäcke wächst auf 30 kg. Wir überholen die Japaner und müssen erneut spuren in das uns unbekannte Yermanendu-Tal. Den Abstieg über unsere Route versperren Lawinen. Im peitschenden Regen finden wir beim letzten Tageslicht den Übergang zum Mandugletscher. Es ist schon tiefe Nacht, als wir unsere Lasten im Basislager auf den Boden fallen lassen. Als ich am nächsten Morgen erwache, liegt der Gipfel schon weit hinter mir. Plötzlich weiß ich, dass er auch nicht so wichtig war. Was zählt ist die gelebte Erfahrung und die Tatsache, dass in zwei Tagen meine Freundin kommen wird. Ich öffne den Zelteingang und sehe, dass die Sonne wieder scheint.
“Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir liegt einzig daran, die Welt lieben zu können.” (H. Hesse, Siddharta)
Daten: Der Masherbrum liegt mit 7.821 m an der 22. Stelle der welthöchsten Gipfel. Ziel der Alpenvereinsexpedition unter Robert Renzler war die 3.500 m hohe Nordwand. Es gelang die 2. Begehung der Wand (15 Stunden nach den Japanern) und die erste Besteigung vom Mandu-Tal aus. Das erste Drittel der Österreicher-Route verläuft völlig eigenständig und birgt die Hauptschwierigkeiten des Gesamtanstiegs, sowohl was die technischen Schwierigkeiten als auch die extreme Eisschlag- und Lawinengefahr anbelangt. Der Hauptgipfel wurde seit der Erstbesteigung 1960 durch ein US-Team insgesamt erst von 4 Expeditionen erreicht. Die letzte Besteigung gelang dem Alpenvereinsteam 1985. Danach wurde die Nordwandroute von starken Teams aus Russland und Slowenien/USA versucht, die allerdings auf Grund der extremen Lawinengefahr im Bereich von 6.000 m aufgaben.
Teilnehmer: Hans Bärnthaler, Thomas Burtscher, Michael Larcher, Andreas Orgler, Christoph Rimml, Robert Renzler.
Ablauf und Schwierigkeiten: Der Gipfel wurde erreicht von Larcher, Orgler und Renzler am 24. Juli 1985; die Route führt im linken Wandteil zunächst über einen 1.200 m hohen Pfeiler, danach über einen langen, stark überwechteten Grat mit Auf- und Abstiegen an die zentrale Schlusswand und nach einer langen, horizontalen Querung über ein Eisfeld und ein riesiges Riss- und Verschneidungssystem gipfelwärts. Schwierigkeiten im Fels bis VI-, schwieriges kombiniertes Gelände, Eispassagen bis 85° (eine Stelle 90°).
Walkerpfeiler
Reinhard Schiestl 1975
In Chamonix trug ich meine Gefühle mit mir herum, welche zwischen freudiger Erwartung und ängstlicher Bedrückung wechselten bis unter die Nordwand der Grandes Jorasses.
Mit Begeisterung sind wir eingestiegen und das Wetter war schön. Wir gewöhnten uns rasch an den Fels. Da wir erst am Nachmittag die Kletterei aufgenommen hatten, planten wir ohnehin ein Biwak. Wir wollten an diesem Tag nur noch einen guten Platz finden . . .
Dann aber verstiegen wir uns. In der 75m-Verschneidung waren wir dem letzten Flackern der Sonne nachgestiegen, schnell, ohne viel zu schauen. Dabei kamen wir zu hoch und schließlich machte es uns die Dunkelheit unmöglich, den tiefer liegenden Quergang zu finden.
Und nun, in der Nacht also, da waren wir allein mit unseren Gedanken und leisen Ängsten. Jeder eingehüllt in seinen Biwaksack, an vier Haken hängend, zum Stehen war kein Platz. Dabei schnitten die Seile ein und wenn es zu schlimm wurde, drehte und wendete man sich und dann sind wir wohl eingenickt. Aber irgendwann war da ein leiser Begleiter, der uns bis in den Morgen mit Sorge beschäftigte. Schnee, der aus den wenigen Wolken kam, die untertags noch auf der italienischen Seite des Berges ruhten. Wie der Dieb in der Nacht waren sie gekommen, dunkel und langsam.
Egon schlüpfte aus seiner Schale aus Perlon und Daunen und stopfte einfach alles in den Rucksack, während ich nur langsam, durch heftiges Stechen in der Brust gehindert, meine Sachen in Ordnung brachte. Doch das Wetter war wieder schön und beim Klettern konzentrierte ich mich mehr auf Griffe und Tritte, so dass ich diese Beschwerden nicht zu wichtig nahm . . .
Wir waren eben bei den “Schwarzen Platten” angelangt, als wir eine seltsame Veränderung bemerkten. Man hatte das Gefühl, gänzlich allein zu sein. Die Rufe anderer Seilschaften waren plötzlich verstummt. Als wir sie suchten, erkannten wir winzige schwarze Punkte tiefer schweben wie Puppen im Theater sie seilten sich ab. Wir hatten dieses Schauspiel noch nicht begriffen, als uns bereits der Nebel einhüllte, aus dem die ersten Flocken fielen. Ab und zu riss das Bild auf. Da war aber kein Blau mehr am Himmel. Vom Hirondelles Grat herüber bis zu den Gipfeln der Courtes, Droites, Dru ein düsteres Gemisch von Weiß und Grau. Wir waren also die einzigen Kletterer, die übrig blieben auf diesem Pfeiler.
Und weil wir schon zu hoch waren, blieb uns nur noch der Weg nach oben, über Eis und glitschige Platten. Langsam, keuchend, stieg ich über nassen, verschneiten Fels 10m, 20m ein Zwischenhaken, darüber eine eisgefüllte Verschneidung. Die Hände wurden gefühllos, alles war nass und kalt. Immer noch und noch eine Seillänge mit winzigen Kerben im Eis und wässrigem Fels . . . grau, eintönig. Einmal habe ich mich verstiegen, war zu weit links einer Reihe von Haken gefolgt, die unter einer Kante mit Dächern aufhörte. Es war mir gleichgültig, dass ich wieder zurück musste. Ich wurde zu einer langsamen, reparaturbedürftigen Maschine, bei der Zeit keine Rolle mehr spielt.
Vor den roten Kaminen wurde ich so langsam, dass die Technik des Überschlagens keine Zeitersparnis mehr brachte. So ging nun Egon voraus. Während ich nur mehr für den richtigen Lauf des Seiles sorgen konnte, kämpfte er mit vereisten, losen Blöcken. Es war erst früher Nachmittag, als wir in den Bereich des Pfeilers kamen, wo die Kante zum Grat wird. Da trennte uns nur noch eine Seillänge von einem Absatz, und von diesem musste der flache, leichte Grat beginnen. In einer Stunde könnten wir vielleicht am Gipfel sein…
In diese Seillänge hatten wir alle unsere Hoffnungen gelegt! Doch dann traf mich ein Stein, faustgroß. Ich konnte nicht wegspringen, nur schauen und den Körper zur Seite drehen. Der Schlag traf mich an der Schulter und der Arm war für kurze Zeit taub. Jetzt war ich nicht nur sehr langsam, sondern es wurde für mich auch unmöglich, schwere Stellen ohne Seilzug zu bewältigen. Als wir endlich den Absatz erreichten, sah ich mit einem Mal alle unsere Hoffnungen zusammenbrechen. Egon saß im Schnee, enttäuscht und müde da war kein flacher, kurzer Grat! Da war eine steile, vereiste Platte und dann müsste man queren, in ein Gelände, das man von hier aus nicht sehen konnte. Erst dann, nach vielleicht vier, fünf Seillängen, würde man den Grat erreichen . . .
Wir hatten gekämpft, geflucht und gehofft und jetzt gaben wir den Kampf auf, wir wollten abwarten. Wir ließen uns in den weichen, körnigen Schnee sinken. Erst als uns zu kalt wurde, begannen wir den Platz zu ebnen und das Biwak zu richten. Das war ein hartes Stück Arbeit. Doch bald darauf hatte ich den Schnee vergessen und auch den Pfeiler und ich träumte vom Gardasee und von Pizzas . . . Morgen werde auch ich warm baden und Pizza essen – oder besser Zigeunerspieß! Richtig saftig und noch etwas rosa sollte das Fleisch sein, und einen großen Berg goldgelber Pommes frites wollte ich dazu verschlingen.
Irgendwann, noch vor der Nacht bin ich kurz aufgewacht. Nass und schwer legte sich der Schnee auf die schützende Hülle des Biwaksackes. Wir müssen immer wieder gegen den Sack schlagen und die feuchten Schneebatzen fallen zwischen uns, wo sie mein Luftloch verstopfen. Ich spüre dann die Panik, die aufsteigen will, wenn die Hülle wie ein nutzloser Fetzen auf mir klebt und den Atem nimmt. Dann grabe ich ein Loch durch das Labyrinth des Sackes, erschöpft kämpfe ich gegen die Sinnlosigkeit der Angst, ja Angst!
Viel später erst, als ich aufgehört hatte zu denken und mir Hoffnungen zu machen, als ich nur noch da lag am Rücken und die Handlungen wie automatisch erfolgten, merkte ich, dass ich plötzlich keine Angst mehr hatte . . . Nur vorher, da war es schlimm. So schlimm, dass ich oft Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinander halten konnte, dass sich manchmal Tag und Nacht vermischten.
Der Morgen kommt mit fahler, kalter Blässe und argem Frost. Wir konnten nicht am ersten Morgen weiterklettern und nicht am nächsten und nicht am übernächsten . . . Wir konnten nur warten und schauen. Die Zeit machte uns ebenso zu einem Teil der Landschaft wie den Schnee oder vereinzelte Felsinseln, die schwarz und glasig, wie dunkle, hässliche Beulen, aus steilen Wandpartien ragten. Die Füße stecken in zu engen Schuhen, meine steifen, aufgedunsenen Hände halte ich tief in den Taschen des Anoraks vergraben. Wir liegen gekrümmt, zusammengekauert wie Hunde, denn im Schnee, der unseren Platz überschwemmt, schmelzen unsere Körper Mulden aus, die immer tiefer und kleiner werden. Der Grund dieser Mulden ist mit Eiswasser gefüllt. Schon nach kurzer Zeit sind die Daunenkleider nur noch dreckige, durchscheinende Lumpen . . .
Um das Brennen und den Durst im Hals zu stillen, können wir auch Eisplättchen lutschen. Dünn und klar haften sie an der Innenseite des Biwaksackes gebildet durch unseren Atem. Solche Plättchen lecke ich gierig herunter. Dann lasse ich sie langsam auf der Zunge rückwärts gleiten, bis sie sich lösen und als spärliche Tropfen den Gaumen benetzen. Doch es bleibt eine Leere im Mund und einige Eiskörnchen kratzen bösartig im Hals. Doch ich habe Durst und der Schnee in meiner Flasche ist noch gefroren. Ich lege sie zwischen die Beine in einem Tag werde ich zwei kleine Schlucke trinken können und ich träume von Kaffee und Erdbeermilch. Dabei brennen die Augen und der Hals ist dick geschwollen.
Manchmal schauen wir auch nach dem Wetter, wir wissen, dass das sinnlos ist. Egon erinnert sich, dass es hier einmal vierzehn Tage ununterbrochen geregnet hat. So stecken wir nur ab und zu den Kopf aus dem Sack, bei Tag oder Nacht, ohne viel zu reden verstehen wir uns, und wir betrachten kurz die Umgebung, die kleinen Schneefahnen, die der Wind in die Luft bläst. Einmal aber, da sehen wir etwas anderes als den bloßen Nebel und den Schneefall. Durch Nebellöcher sehen wir vereinzelte, dicke Wolken über den Grat fliegen. Ganz langsam wachsen sie zusammen, türmen sich auf zu einer dunklen, drohenden Gefahr.
Ich glaube, es waren drei Tage nachdem wir eingestiegen waren, vielleicht auch vier. Wir liegen unter riesenhaften, ungeheuren Turmgebilden. Schwarzgrau, wie alte, dicke Wolle. Aber der fette Glanz der Wolken hat etwas Hartes an sich. Kleine Hagelkörner prallen klatschend gegen den Fels. Dann wechseln sie in Graupeln über wie widerspenstiges Styropor und die Luft summt vor elektrischer Spannung. Und ich beginne zu träumen. Oder ist das noch die Wirklichkeit? “Wir müssen das Eisenzeug weghängen, Egon! He, wir müssen alles an das Seil binden und hinunterlassen!”. Doch das Seil ist ein weißer Draht und an diesen sind wir gebunden.
Ich habe die Augen wohl geschlossen, denn ich fühle alles nur dunkel, und ich höre gar nicht, ob Egon antwortet. Nur der grelle Schein der ersten Blitze blendet. Wir sind knapp unter dem Gipfel, 100 Meter vielleicht. “Glaubst du, dass wir so ein Glück haben werden?”. Ich erwarte mir keine Antwort, will nur die Augen schließen und die Ohren vor diesem Inferno, in dem es nur noch Blitze und große Schläge gibt. Ich habe gar nicht gewusst, dass Donner so laut ist, und die Blitze um uns sehe ich auch mit geschlossenen Augen. Die Schlosserei schieben wir nicht einmal mehr zur Seite, ich krümme mich nur müde zusammen und warte auf den ganz lauten Knall. Der kommt dann auch mit ungeheurer Wucht und mir reißt es den Arm hoch gegen den Biwaksack. Wir schreien es uns zu, dass wir noch leben. Doch ich spüre keinen Schmerz, ich liege nur halb im Sack und die Nacht ist dunkler denn je. Das Gewitter dauerte die ganze Nacht und den nächsten Tag. Das war ein einzigartiges, böses Heulen und Peitschen des Sturms in diesen Stunden hätte ich jede Art zu sterben diesem untätigen Liegen vorgezogen.
Später, als alles vorbei war, hat mich Egon auch nach Gott gefragt. “Wenn es einen Gott gibt, kann er uns überleben lassen, um uns dann trotzdem sterben zu lassen?” Ich konnte ihm nicht antworten. Ich wusste nur, dass es mir nun gleich wäre, wenn ich sterben würde, aber ich spürte, dass ich nicht so einfach sterben konnte . . .
Sechs Tage nach unserem Aufbruch scheint auf einmal die Sonne, es ist bald Abend. Die Felsnadeln gegenüber glänzen violett, und lang gestreckte Fischwolken stehen am Himmel. Ich lasse einige Hagelkörner durch die Finger rinnen. Wir sitzen zum ersten Mal wieder in der Sonne und grinsen uns müde an. Die graue Haut spannt sich über die Backenknochen wie bei alten Männern. Wir reden jetzt wieder von den Freunden, vom Gardasee und von guten Speisen mit Getränken und vom Hubschrauber, den wir erwarten.
Am Crozpfeiler bewegt sich ein roter Punkt Menschen, Bergsteiger. “Egon, sie holen doch zuerst uns, müssen doch zuerst uns holen!”. Als der Helikopter kommt, richte ich mich hoch auf, aber ich komme nur auf die Knie, denn schon machen mich schwarze Kreise schwindlig. “Wir sind gerettet, endgültig gerettet! Wer soll wohl als Erster hochgezogen werden, Du oder ich?” Das ist doch jetzt nebensächlich. Wir fallen uns in die Arme und winken wie irrsinnig, winken, lachen, lachen . . .
Zum Greifen nahe ist die Maschine, vielleicht 10 Meter oder 5 Meter. Die Piloten machen Zeichen, wir verstehen, sie bergen uns und wir winken zurück und lächeln. Aber dann fliegt der Hubschrauber zum Crozpfeiler hinüber und holt die anderen zuerst. Wir warten bis in die Nacht hinein, hoffen dass er wiederkommt, doch dann kommen die Wolken und der Schnee. Wir begreifen nun nichts mehr, spüren nur eine dumpfe Wut im Bauch, dass man uns einfach so verrecken lässt. In dieser Nacht liegt jeder still in seinem Sack und horcht auf den Sturm. Wir halten die Säcke ganz nieder auf den Boden, doch plötzlich kommt ein Windstoß. Ich sehe die Dunkelheit, der Sturm peitscht den Schnee und die Kälte in den ungeschützten Schlafsack, und der Biwaksack knattert höhnisch weit hinaus in die Luft. Nur mein Gewicht hält ihn noch am Boden und nur mit viel Kraft kann ich wieder mein Biwak richten. Doch der Körper schmerzt und friert und ich schlafe vor Erschöpfung ein.
Es war die beklemmende Ruhe, die uns plötzlich weckte. Als wir den Biwaksack öffneten, starrten wir hinaus in einen sternklaren Himmel, der Mond glänzte matt. Wir setzten uns auf und warteten auf die Sonne. An diesem siebenten Tag seit unserem Aufbruch hat uns dann der Hubschrauber geholt, wir waren sehr dankbar. Wir hatten das Leben wieder!
Seither habe ich viele Dinge nicht mehr für sehr wichtig genommen …
Der Traum von der “Weinflasche”
Andreas Orgler
Letztes Jahr im Juli stand ich zusammen mit Sepp Jöchler, Mugs Stump und Lylle Dean zum ersten Mal unter diesem riesenhaften Pfeiler und brachte vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Was für eine Linie, die schönste und offensichtlichste weit und breit! Das wäre eine Erstbegehung! Doch allein beim Gedanken daran fiel mir das Herz in die Hosentasche. Dieser Goliath mußte noch warten, zu schnell und unvermutet waren wir mit ihm konfrontiert worden. Wir sahen uns erst einmal nach anderen, überschaubareren Zielen um.
Am nächsten Tag gelang Sepp und mir eine herrliche Erstbesteigung, die des Mount Bradley über seinen 1.600 Meter hohen Ostsporn, eine kombinierte Kletterei mit Schwierigkeiten bis zum VI. Grad im Fels und 50 bis 70 Grad steilem Eis. Kurze Zeit später glückte uns noch eine Erstbesteigung: die 600 Meter hohe Wand des Hüttenturms. Doch was waren diese 600 Meter schon gegen die 1600 “unserer” Weinflasche! Sie ließ unsere Gedanken nicht mehr los. Ein Versuch scheiterte jedoch bereits nach fünf Seillängen an einem überaus brüchigen Dachriegel. Wir hatten diese Linie gehörig unterschätzt. Die Zeit und wir mit ihr waren wohl noch nicht reif für diesen steinernen Goliath.
“Kleinere Brötchen”, aber immer noch gigantisch groß, waren angesagt: die 900 Meter hohe, bislang undurchstiegene Barrille Ostwand. Die ersten 13 Seillängen, die mit Schwierigkeiten bis zu VII und A3 wohl den schwierigsten Teil der Wand bilden, konnten wir in einem guten und zufriedenstellenden Stil durchsteigen. Aber etwa in Wandmitte zwang uns ein grausiger Regen und Schneesturm “Marke Alaska” zur Umkehr. Wir hatten uns schon am Gipfel gesehen, aber nun standen wir wieder, total übermüdet, enttäuscht und ausgebrannt am Einstieg. Wir hatten die Schnauze voll: 17 Stunden extreme Kletterei, und dann kein Erfolg!
Dennoch war diese Unternehmung ein unvergeßliches Erlebnis: Wir beide, ein gut eingespieltes Team, mit dem Wissen, daß noch niemand in dieser oft versuchten Wand so hoch gekommen ist wie wir, daß wir es waren, die die Route nun beinahe entschlüsselt haben. Mit diesem “Beinahe” als Hausaufgabe und der Linie der “Weinflasche” im Kopf kehrten wir nach Hause zurück. Zwei riesenhafte Brocken Fels, zwei überdimensionale Hinkelsteine mit natürlichen Traumlinien. Die Lösung dieser Traumlinien steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt geschrieben, aber wir hatten nun ein Jahr Zeit, sie, zumindest in Gedanken, zu finden.
Und nun stehen wir wieder hier, mitten im Ruth Gletscher, mehr als 100 Kilometer von den nächsten Siedlungen entfernt, allein auf weiter Flur. Bevor uns der fast schon legendäre Pilot Doug Geeting hier abgesetzt hat, drehte er noch ein paar Ehrenrunden um die “Weinflasche” und den Mount Barrille. Tommi Bonapace, mein Partner, steht nun zum ersten Mal unter dieser Riesenflasche, und es geht ihm offensichtlich um keinen Deut besser, als es mir im letzten Jahr erging. Auch ich spüre wieder den Respekt vor diesem Giganten, die Skepsis den eigenen Fähigkeiten gegenüber. Doch je länger ich in mich hineinhöre, um so deutlicher spüre ich den Optimismus wachsen. Eine ganz eigenartige und intensive Beziehung hat sich seit dem letzten Jahr zu diesem Pfeiler aufgebaut. Eine Beziehung voller Neugierde, doch auch voller Zweifel; ungeahnte Energien angesichts dieser 1.600 Meter unbestiegenen Felses, und doch auch Lähmung. Mit einem ständig auf die “Weinflasche” schielenden Auge gelingt es in den nächsten Täagen, die heiß ersehnte Erstbegehung der Ostwand des Mount Barrille zu vollenden.
Endlich geschafft, wir sind überglücklich, Erleichterung. In einem einzigen Moment entlädt sich die ganze Anspannung eines Jahres des Hoffens und Wartens. Vor sieben Jahren wurde zum ersten Mal versucht, diese Wand zu durchsteigen, und dann fast in jedem Jahr wieder doch immer vergeblich. Auch Sepp und ich waren schon einmal, kurz vor dem Ziel, gescheitert. Und nun dieser Erfolg! Wir kletterten die Wand in Big Wall Technik in 2 ½ Tagen. 2 ½ Tage in dieser Mauer, daß heißt: herrliche Risse, Verschneidungen und Platten, alles bis zum VII. Schwierigkeitsgrad mit nur wenigen kurzen A3 Stellen, nur zehn Meter allerdings überhängendem Schotter und zwei Seillängen in einem Wasserstrahl. Der Name der Route liegt uns förmlich auf der Zunge: “Happy End”. Zwei Ruhetage voll innerer Zufriedenheit heilen uns die wunden Finger und mobilisieren unsere Energien für das noch viel größere und höhere Ziel: den Ostpfeiler des Mount Dickey, die “Weinflasche.
Der Zyklop zeigt seine Zähne …
Ganz schüchtern suchen wir den ersten Kontakt mit dieser Supernase. Ohne Haulbag, ohne Biwakzeug, nur mit der ganz normalen Kletterausrüstung, machen wir uns auf den Weg. Zu groß ist noch der Respekt, um ganz von einer Durchsteigungsmöglichkeit überzeugt zu sein. Das Ziel heißt vorerst, höher zu kommen als im Vorjahr. Doch der Zyklop zeigt schon vor dem Einstieg seine Zähne: Durch eine riesige Rißspalte ist nicht einmal der gleiche Zugang über den Hängegletscher wie im letzten Jahr möglich.
Die einzige Einstiegsmöglichkeit besteht am tiefsten Punkt des Pfeilers, an einer markanten Quarzader. Doch hier wirkt alles so glatt und übersteil, daß uns starke Zweifel kommen, ob wir unser Vorhaben, nämlich möglichst viel frei zu klettern, überhaupt verwirklichen können. Und das schon vor Beginn der eigentlichen Kletterei! Aber sieh an, der Zyklop drückt sein eines Auge zu und läßt uns in drei Seillängen ausgesetzter Freikletterei im unteren VII. Schwierigkeitsgrad und einem kurzen Seilquergang bis auf unsere alte Route vordringen. Dann hemmt jedoch ein Schlechtwettereinbruch unseren Entdeckertrieb. Zwei Tage später kehren wir zurück und es läuft wider Erwarten wahnsinnig gut. Übermotiviert klettern wir über eine schwere Schuppenwand zum “Schwert”, eine zwei Meter waagerecht in die Luft ragende Felsplatte, am Beginn der 50- Meter Verschneidung.
Letztes Jahr habe ich mich da noch hinaufgenagelt. War ich damals blind? Das ist ja eine phantastische Freikletterei im obersten VII. Grad, eine der schönsten Seillängen, die ich je im Gebirge geklettert bin. Doch das große Fragezeichen hängt schon wie ein Damoklesschwert über uns: die Seillänge unseres letztjährigen Umkehrpunktes. Auf die Lösung dieses Rätsels hatten wir uns schon zu Hause vorbereitet: Auf Fotos entdeckte ich eine Rißreihe, parallel zu der, in der unsere Träume letztes Jahr ein so jähes Ende fanden. Um keinen Preis der Welt wollte ich wieder in diesem brüchigen Überhang landen. Doch wie diesen Rechtsquergang schaffen? Das ist kühn und ehe ich mich versehe, fliege ich mit all den mühsam gelegten Cliffs und Copperheads zurück in die Verschneidung.
Der zweite Versuch verläuft erfolgreicher, aber was für eine herbe Enttäuschung wartet da auf uns: Das Parallelrißsystem entpuppt sich als brüchiger Wasserstreifen. So einfach ist der Gigant also doch nicht zu haben! Jetzt hilft nur noch eines: ein kontrollierter Rückpendler in das alte Rißsystem, Scheuklappen auf, und der Start in den altbekannten Bruch. Und siehe da, Angst kann motivieren.
Nur zehn Meter brüchige A2 Kletterei, und den Rest kann Tommi nach meiner Putzaktion sogar frei klettern. Immerhin sind wir nun schon zwei Meter weiter als im letzten Jahr. Noch eine Seillänge, dann wollen wir müde in unser Gletscherheim zurückkehren. Mit einem ansprechenden Pendelquergang erwischt Tommi einen vom Standplatz aus verlockend aussehenden Riß. Doch statt ausgesetzter Freikletterei wird er einer der beiden rein technischen Seillängen der gesamten Route. Zwei Stunden Rodungsarbeit im Moos und Gras, das ist ein echter Kleingärtnerriß! Mit unserem gesamten Seilmaterial, dem Haulbag Seil, den beiden Kletterseilen und einem Stück Reepschnur, fixieren wir die bisher gekletterten Seillängen, um beim endgültigen Durchsteigungsversuch Zeit zu gewinnen. Die Zeit ist hier ein wichtiger Faktor, denn Schönwettertage sind hier ähnlich dicht gesät wie Sechser im Lotto.
Let`s go! Am 10. Juli ist es soweit. Wir, das sind Tommi, ich und unsere Lebensversicherung in Form eines 40 Kilogramm schweren Haulbags, brechen auf. Tommi und ich verstehen uns gut, doch mit dem dritten im Bunde verbindet uns eine Art Haßliebe. Beim Nachziehen ist der Haulbag der persönliche Todfeind Nummer 1, am Biwakplatz jedoch eine Wundertüte, die Essen, Kleider, Schlafsäcke und Kocher schenkt. Der Fettwanst ist mit Lebensmitteln und anderen notwendigen Utensilien für ganze neun Tage gemästet, denn dieses Mal wollen wir auch bei einem Schlechtwettereinbruch nicht das Feld räumen. Der erste Tag bringt uns in einer grausamen Jürmarpartie und fünf tollen Rißseillängen zum obersten Punkt des ersten großen Steilaufschwungs. Selten leichter als VI, drei Seillängen im VII. Grad und zwei technische Seillängen bis A2, sind die stolze Bilanz der ersten 350 Meter.
Die beiden folgenden Tage bringen reine Freikletterei an herrlichen Granitplatten und schier endlos scheinenden Rißsystemen. Das Ganze wird von zwei rassigen Eisfeldern garniert, bevor wir am Abend des dritten Tages am Beginn des “Flaschenhalses” ein ausgesetztes Biwak beziehen, dessen einziger Luxus sich in einem kleinen Schneefleck erschöpft, der gerade unseren Wasserbedarf stillen kann. Der wuchtige Bauch der Flasche liegt nun unter uns. 29 Seillängen – in anderen Routen würden wir schon längst am Gipfel stehen, doch hier fällt einem erst einmal eine ganze Welt aus Stein auf den Kopf, die einen noch erwartet. Wir sind müde, abgespannt, die endlosen Klettertage, die Nässe, die lädierten Finger, all die Anstrengungen haben uns mürbe gemacht. Nur gut, daß wir nicht wissen, was uns noch erwartet.
Durch einen unstrukturierten Bruchhaufen …
Den vierten Tag beginnen wir schon richtig automatisiert: das Aufstehen im Klettergurt, das Frühstück, das Zusammenpacken. Selbst das Klettern gehört nun schon zur Tagesroutine. Eine Seillänge zum Warmklettern, dann trifft es Tommi, eine vielversprechend aussehende, steile Schuppe zu führen. Seit zwei Tagen klettern wir nur noch in Big Wall Technik: Einer steigt vor und zieht den Haulbag nach, der andere jümart nach und entfernt alle Sicherungspunkte. So kann man wenigstens jede zweite Seillänge ausrasten, sich auch psychisch entspannen. Doch jetzt wird es selbst für den Nachsteiger spannend: Nach den ersten 20 Metern freier Kletterei im VII. Grad enden plötzlich alle Risse, und Tommi steht nur noch vor einem völlig unstrukturierten Bruchhaufen. In kniffeliger Technokletterei schleicht er, Haken um Haken vorsichtig abbindend, immer weiter von der Rettungsinsel des letzten guten Klemmkeiles weg. Zehn lange Meter. Die vorgezeichnete Sturzbahn ist frei, doch das ist nur ein sehr schwacher Trost für die Psyche. Tommi beweist Nerven; was heißt Nerven, ich frage mich manchmal, ob er überhaupt noch welche hat.
Nach seiner Superleistung muß er noch zusehen, wie ich mich diese beiden 50 Meter langen Bruchrisse hinaufschinde. Ich klemme mit allem, was in diese beiden Ungetüme nur hineingeht. Schnaubend und keuchend wie ein Tragesel, versuche ich mir immer wieder selbst gut zuzureden. Heilfroh bin ich, als ich nach vollen 50 Metern, an der einzigen, wenn auch wenig komfortablen Standplatzmöglichkeit, Tommi von seinem ausgesetzten und unsicheren Stand erlösen kann. Das Aufatmen ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn die nächste Seillänge ist die letzte “Bauchwehlänge” in äußerst schlechtem Fels. Die Qualität des Felses ändert sich zwar dann schlagartig und verdient uneingeschränkt das Prädikat “super”,doch wir sind langsam aber sicher unfähig zum Genuß. Meter für Meter hoffen wir, daß sich der Pfeiler endlich zurücklegt, aber der Fels bleibt unverändert steil.
Zwei herrliche Seillängen führen uns über das “Mitternachtsdach”, das wir genau zur Geisterstunde passieren. Und dann muß ich nochmals auf Rißsuche gehen. Bei allen den 1.200 bisher gekletterten Metern haben wir intuitiv immer den richtigen Weg gefunden. Verläßt uns nun das Glück? Doch siehe da, nach kurzem Suchen führt mich ein Pendelquergang um eine Kante direkt zu einem Biwakplatz. Zwar ausgesetzt und klein, noch dazu zweigeteilt durch eine Schuppe, doch in diesem Augenblick ist selbst dieser unkomfortable Platz Gold wert. 16 Stunden sind wir seit dem letzten Biwakplatz unterwegs gewesen, die ganze Nacht lang sind wir geklettert, zwei kurze Regenfälle mußten wir über uns ergehen lassen, da ist einem dann alles recht, wenn man nur schlafen kann!
Außerdem ist es sehr beruhigend, daß gleich hier ein vereister Kamin mündet, der uns erstens das nötige Wasser und zweitens den Weiterweg sichert. Wie an einer Würstelbude lehnend können wir von der Schuppe herunter unser Abendessen einnehmen, ein Stehimbiß mitten in der Wand! Nach ausgiebigem Schlaf klettern wir dann weiter, unser gesamtes Material am “Stehimbiß” zurücklassend. Vier Seillängen im vereisten Kamin und in dem darauffolgenden Wasserfallkamin. Völlig durchnäßt queren wir an Quarzlöchern direkt unter einem riesigen Dach nach links an die Kante und ins Trockene, sekundenlang leuchtet ein Hoffnungsschimmer in Form von flacheren Platten, die einen Weiterweg versprechen. Mit dem beruhigenden Wissen um diese “flacheren” Aussichten seilen wir wieder zu unserem “Stehimbiß” ab, ziehen trockene Kleider an und verbringen die fünfte Nacht in luftiger Ausgesetztheit, 1.400 Meter über dem Gletscherboden, mit einem exklusiven Ausblick genau in die gähnenden Spalten. Mit einem “Hot fruit Coppler” feiern wir bereits etwas vor, denn unser Optimismus ist wieder erwacht und hat uns aus der Kletterlethargie gerissen.
Am sechsten Tag erreichen wir schließlich nach neun Seillängen über Platten, Risse und über die “Serviette”, das Gipfeleisfeld, den “Korken” unserer Riesenflasche. Noch fünf Seillängen Blockkletterei im IV. und V. Schwierigkeitsgrad, bis wir endgültig am Ausstieg sind. Die letzten paar Meter Schneestapfen bis zum Gipfel kommen uns trotz der gewaltigen Rückenlast (einer trägt die gesamte Kletterausrüstung, der andere den Haulbag) eher wie ein Schweben vor. Hinter uns liegt gut eine Meile senkrechter Fels, ein Traum, der mich ein Jahr lang in seinem Bann gehalten hat, ein rundherum gelungenes Alpinabenteuer, wie man es nur seiten erlebt, gemeinsam mit einem tollen Partner, mit ständig gegenseitigen Motivationsschüben … und, und, und.
Beim nächtlichen Abstieg über die Westseite des Mount Dickey kreisen die Gedanken um all die Stunden, die wir hier erlebt hatten – Situationen, Einzelheiten kommen einem wieder in den Sinn. Drei Tage träumen wir dann noch in unserem Zelt weiter, ein unbeschreiblicher Glückszustand, den wir nur durch ausgiebiges Essen unterbrechen. Eine wunschlos glückliche Zeit, bis uns eine Spalte, die sich genau unter unserem Zelt auftut, weckt, und uns zum Ausfliegen aus unserem Nest mahnt. Was bleibt, sind die nackten Fakten einer großen Erstbegehung, bunte Erinnerungsfetzen und ein wirrer Haufen neuer Pläne im Kopf.