Jöchler Sepp

Published by Klaus Jöchler on

14.12.1957  –  09.10.2018
Geschichten und Gedanken über meinen Vater
von Klaus Jöchler

Es war ein föhniger Herbsttag im November 2009. Ein Wolkenschleier überzieht den Himmel, durchsetzt von einzelnen Föhnfischen, kaum Sonne, der düstere Eindruck überwiegt. Wir stehen am Eingang des Halltales und packen unsere Klettersachen in die Rucksäcke.
Das am Vorabend getrunkene Bier nach einem Bergfilmfestival Ausflug überstieg das übliche Quantum. Als zu später Stunde, genauer um 4 Uhr morgens, noch an der Bar sinniert wurde, welche Gipfel Sepp im Karwendel wohl noch fehlten, fiel plötzlich der Plattenturm im Halltal ins Gespräch. Rudi und ich waren schlicht erstaunt, dass der große Karwendelkenner, ausgerechnet im Halltal, seiner Heimat wo er wohl jeden Stein in Form und Beschaffenheit kennt, diesen augenscheinlich bizarren und ominösen Felsturm noch nicht in seinen Annalen vermerken konnte. „Einmal wollte ich es mit Lugger Kurt probieren, aber an diesem Tag hats einfach nicht so gepasst“ waren seine Worte. Von „passen“ kann heute nach 3 Stunden Schlaf wohl auch nicht wirklich die Rede sein, doch nichtsdestotrotz wurde der Idee, diesen letzten weißen Fleck zu erkunden zumindest am Vorabend noch mit großer Euphorie begegnet.
Nach einem mühsamen Zustieg stehen wir nunmehr vor diesem beeindruckenden Turm. Rudi, mein Vater und ich sitzen jetzt da und starren mit fragwürdigen Blicken auf die Felsgestalt. Riesige Komponenten in Form von Kalkblöcken stecken wie Rosinen in einer feinen, zementartigen Matrix. Der Geologe spricht hier von einer Brekzie. In der Hoffnung, der Seppl wird jetzt den Bruch da wohl hoffentlich bald vorsteigen, kommen uns leider andere Worte von ihm zu Ohren. „Ob des heit schu gscheit isch?“ fragt Seppl nach einer halbstündigen Begutachtung in die Runde. Rudl ist die Motivation ins Gesicht geschrieben in Form eines leichten Kopfschüttelns. „Je länger wir überlegen umso weniger gfreits uns“ kommt schlussendlich aus meiner Richtung. Die Komponenten sind eigentlich ganz gut und das Brüchige dazwischen wird sich schon machen lassen. Kurz darauf stehe ich angeseilt am Einstieg der Kletterei.
Die Situation widerspiegelt eigentlich die Intuition, auf die Seppl sehr viel gesetzt hat, und das habe ich grundsätzlich von ihm gelernt. So hat bei mir das Bauchgefühl am Plattenturm an diesem Tag einfach gepasst, bei ihm und Rudl halt nicht. Im Nachhinein war Seppl recht froh darüber, endlich auf diesem Turm zu stehen, ein drittes Mal wäre er vielleicht nicht mehr angetreten. Aus Freude über die gelungene Besteigung wurde natürlich ein Bierl in St. Magdalena getrunken.

Eine sichere, untrügliche Intuition war seine große Stärke

Nun, da mein Vater nicht mehr da ist und man selbst jeden Tag älter und reifer wird, schweifen die eigenen Gedanken in stillen Augenblicken gerne zurück in die Vergangenheit, um sich glückliche und unvergessene Momente zurückzuholen und sie wie in einem alten Film an seinem geistigen Auge ablaufen zu lassen. Es ist schön, die Bergerlebnisse, die man mit dem Vater gemeinsam erlebt hat, in der Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Vieles, was man als Kind oder Jugendlicher nicht verstanden hat, tritt einem nun als Erwachsener in völlig neuem Licht entgegen. Der Jöchler Seppl, wie ihn all seine Freunde nannten, war ein Bergsteiger aus Leidenschaft. Bergsteiger sind besondere Menschen. Der Wunsch nach Erreichung eines Ziels erfordert ein hohes Maß an Ehrgeiz, Durchsetzungsvermögen und Charakterfestigkeit. Eine Seilschaft bedeutet nicht nur die Sicherung und die Sicherheit am Berg, sie ist im übertragenen Sinn auch ein Synonym für die Fähigkeit, für seine Freunde in allen Lebenslagen da zu sein.
Und so ein Bergsteiger mit all seinen großartigen Eigenschaften war mein Vater, der Jöchler Seppl! Viele Geschichten von gemeinsamen Bergfahrten mit meinem Vater treten aus dem Nebel des Vergessens hervor. Es war immer eine Bereicherung und wir haben viel miteinander erlebt, auch zusammen mit meinen Freunden. Beim Seppl musste immer alles passen, bevor er in eine Route einstieg. Er hatte stets ein untrügliches Bauchgefühl, eine sichere Intuition, was man sich zutrauen konnte, was möglich war, wie weit man gehen konnte, ohne dass etwas passiert. Diesbezüglich habe ich sehr viel von ihm gelernt.

Geselligkeit und Ausdauer beim „Verhocken“

Doch nicht nur das Bergsteigen, sondern auch die dazugehörige Geselligkeit und Ausgelassenheit beim Verhocken auf den Hütten oder diversen Festen, war ein wesentlicher Bestandteil seiner Lebensweise. Die Kletterabenteuer waren oft gepaart mit feuchtfröhlichen Abenden, aber der Berg hatte immer höchste Priorität. Dabei war Sepp oft gnadenlos und kompromisslos. Wer feiern kann, muss auch aufstehen, eine Absage der Tour, wegen einer durchgezechten Nacht wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Die Freunde, welche ihm wegen Zecherei die Tour abgesagt haben, wurden liebevoll als „Kaputtmänner“ bezeichnet.
Seit meiner Kindheit empfinde ich großen Respekt und Bewunderung für die Berge. Aus den anfänglich Bergtouren erwuchsen schnell viele Facetten des Bergsteigens, insbesondere das Klettern an alpinen Wänden. Schon mit meinem Großvater führte ich im Steinseegebiet Klettertouren durch, fernab von zeitgemäßer Ausrüstung. Dabei beschlichen mich als 10-jähriger Bub manchmal Angstgefühle und ich war oft froh wieder daheim zu sein, um am Tag darauf einfach am Schloßbach mit meinen Freunden Staudamm zu bauen, „normale Dinge“ zu tun, wie auch andere Kinder in meinem Alter es taten. Trotzdem waren es insgesamt sehr tolle Erlebnisse und Erfahrungen. Nach den anfänglichen Touren mit meinem Großvater ging es nach seinem Tod anschließend mit meinem Vater abenteuerlich im alpinen Gelände weiter. Allerdings ging mein Vater schon ein wenig mit der Zeit und die Sicherungstechniken sowie das Material entsprachen bereits den damals aktuellen Standards.

Alpinisten Tradition:    Opa – Vater – Sohn

Noch heute profitiere ich von dieser Schule. In erster Linie war es nicht das wichtigste Kriterium, die höchsten Schwierigkeitsgrade zu klettern, viel mehr schulten mich mein Opa und Vater, Gefahren zu erkennen, mich im Schrofengelände zu orientieren und trittsicher am Weg zu sein. Und genau das eröffnet einen riesigen Horizont. Und wenn ich einen Grat im Karwendel begehe und mich im dritten Schwierigkeitsgrad mit traumwandlerischer Sicherheit bewegen kann, dann spüre ich das Erlernte, ich fühle mich hier zuhause. Obwohl ich in den Bergen gleichsam daheim bin, ist die Hemmschwelle beim Klettern und Bergsteigen wesentlich höher, was die Sicherheit anlangt. Als Familienvater würde ich es heutzutage kaum wagen an die Grenzen zu gehen. Es war schon sehr grenzwertig, welch schwierige Freikletterbegehungen mein Vater in Zeiten wo ich schon auf der Welt war noch durchgeführt hat. Selbst wenn ich das gleiche Niveau und die mentale Stärke besäße, ich könnte es aus moralischer Sicht nicht vertreten. Aber das waren wohl noch andere Zeiten damals, welche sich mit heute nicht mehr vergleichen lassen. Aus frühen Kindertagen ist mir so ein prägendes Erlebnis in lebhafter Erinnerung geblieben. Nach einem Italienurlaub fuhren wir über den Sella Pass nach Hause. Unterhalb der Ciavazes Südwand wurde das Auto geparkt und die Brettljause von meiner Mama nach langer Fahrt aufgetischt. Ganz normal, als wäre das wie Spazierengehen, stieg Seppl kurzerhand in eine der Südwandrouten ein, und kehrte nach gar nicht allzu langer Zeit zu uns zur Jause zurück. Dieses Szenario war dazumal keine Seltenheit, wäre heute allerdings schier undenkbar und wird wahrscheinlich kaum noch irgendwo auftreten.
Mein Vater, der Jöchler Seppl, hat, obwohl er immer für seine Familie da war, stets mit und für seine geliebten Berge gelebt und letztendlich auch in den Bergen seine letzte Ruhe gefunden. Wir werden ihn immer so in Erinnerung behalten wie und was er war: Ein leidenschaftlicher Bergsteiger, dabei ein toller aufopfernder Vater, ein liebenswerter und wertvoller Kamerad, ein wahrer Mensch!

Erinnerungen an meinen Vater
von Markus Jöchler

Schon mein Großvater hat in Zeiten nach dem zweiten Weltkrieg, als es noch eine langwierige und beschwerliche Reise mit dem Schiff bedeutete, zusammen mit Herbert Tichy und dem Sherpa Pasang den Cho Oyu im Himalaya erstbestiegen. Wie konnte es anders sein, als dass auch mein Vater, der Jöchler Seppl, wie ihn alle nannten und kannten, in diese Fußstapfen trat.
Wenn ich zurückdenke an die vielen tollen Bergtouren mit unserem Vater, gibt es eigentlich nur schöne Erinnerungen. In meiner Jugendzeit war es für uns etwas ganz Normales, wenn uns der Vater fragte, ob wir Lust hätten, mit ihm in die Berge zu gehen. Er hat nie Druck auf uns ausgeübt, wir wurden spielerisch mit dem „Bergsteiger-Gen“ infiziert. Heute empfinde ich es so, dass es wohl etwas Besonderes, ja ein Privileg war, mit einem Menschen wie ihm in die Berge zu gehen. Mir ist bewusst, dass ich viele Touren oder Plätze in den Bergen ohne ihn wahrscheinlich nie geklettert oder gesehen hätte. Der Hechenberg-Südpfeiler bei Kranebitten, der Salbitschijen in den Urner Alpen, die Fiamma in den Bergeller Alpen und viele andere Touren, all diese herrlichen Gegenden und wundervollen Stunden, hätte ich ohne ihn nie erlebt.

Weltoffene Orientierung kam von unserem Vater

Diese Stelle am Gipfel des Rauhen Kopfs erinnert an Sepp Jöchler

Rückblickend erkenne ich, dass uns der Vater viel Mut und Selbstvertrauen mit auf den Lebensweg gegeben hat. Oft haben wir bei gemeinsamen Bergtouren mit ihm, den weit entfernten Horizont gesehen. Unser Vater hat es aber auch geschafft, unseren geistigen Horizont zu erweitern und weltoffen zu werden. Heute habe ich selbst Familie und lebe in Krakau in Polen. Nach meinem Studium in Innsbruck zog es mich in die Welt hinaus. Wer weiß, hätte ich meinen Vater nicht gehabt, der mir viele Tugenden auf den Weg mitgab, dann hätte ich mir vielleicht selbst nicht so viel zugetraut und auch nicht den Punkt erreicht, wo ich heute stehe.
Über Sepp als Kletterpartner bzw. Bergkamerad kann ich aus meiner Sicht sagen, dass er immer einen unglaublichen Auftrieb und eine Sehnsucht zu den Bergen hatte, nie aber irgendetwas erzwungen hatte und sich auch immer auf sein Gefühl verlassen konnte. Als Mensch, war er immer sehr rücksichtsvoll und so wie wir ihn auch privat alle kennen, positiv, mit seiner ruhigen Art aber auch sehr humorvoll.

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