Reinhard Schiestl, einer der ersten Schnellkletterer

Published by Walter Spitzenstätter on

Wenn wir von alpinsportlichen Besonderheiten sprechen, dann denken wir in erster Linie an spezielle Erfolge bei alpinen Unternehmungen, die in auffallend kurzer Zeit absolviert wurden. Beim Blick in die Reihen der besten Kletterer der Gipfelstürmer finden sich etliche Namen, die immer wieder mit schnellen Begehungszeiten Furore gemacht haben. Einer der Ersten, die in dieser Hinsicht von sich reden gemacht haben, ist Reinhard Schiestl.

Kaum beachtete Superleistung:
Solo durch die Badile NO-Wand

Warum das Bergsteigen nicht als Sport gesehen werden sollte, ist die Tatsache, dass man keine direkte Vergleichsmöglichkeit hat. Man muss eine erbrachte bergsteigerische Leistung im Rahmen jener Zeit betrachten, in der sie durchgeführt wurde (Ausrüstung, allgemeine Einstellung zum Berg in dieser Zeit) und man müsste Bewertungskriterien einführen, die nicht nur die Begehungszeit, die Art der Begehung (solo, Seilschaft, gesichert, frei, etc.) berücksichtigt. Es müssten auch so wesentliche Faktoren wie z.B. das herrschende Wetter (oder Unwetter), die Verhältnisse in der Wand, (Nässe, trocken, Eis, Schnee), der Zustand der Route (vorhandene oder fehlende Haken), der Stil der Begehung (Rotpunkt, Af, A0, oder Begehung unter Verwendung von Trittleitern) zusätzlich in eine Bewertung einfließen, um einen Vergleich von Begehungen anstellen zu können. Einerseits sind all diese Faktoren kaum von vergleichbaren Begehungen bekannt und andererseits ist es praktisch unmöglich, objektive Kriterien für eine Bewertung bei Unterschieden einzuführen. Wie sollte man z.B. einen Ausgleich für herrschenden Sonnenschein gegen trockene Verhältnisse bei unsicherem Wetter und tiefer Temperatur bei einer zu vergleichenden Begehung finden. Oder wie würde man einen gerechten Zeitausgleich finden für die Tatsache, dass an der Schlüsselstelle ein wichtiger Haken gefehlt hat, der bei der Vergleichsbegehung nachgeschlagen werden musste.

Man sieht, es gibt praktisch keine Möglichkeit einer exakten Bewertung von verschiedenen Besteigungen. Diese Erkenntnis ist nach meiner Überzeugung der Hauptgrund warum Bergsteigen so faszinierend ist, warum diese Art der körperlichen Tätigkeit von so vielen Menschen, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten, meist ein ganzes Leben lang, mit voller Begeisterung ausgeübt wird. Unser Tun ist praktisch nicht vergleichbar, wir setzen die Taten hauptsächlich nur für uns selbst, zu unserer Freude, zur Freude unseres Partners – und bei großen Leistungen natürlich auch zur Bewunderung vieler Gleichgesinnter, in der Überzeugung, dass eben jede Besteigung ein Unikat darstellt, das mit anderen nicht vergleichbar ist.

Dennoch reizt mich die Betrachtung von zwei ähnlichen Besteigungen, ohne eine Bewertung zum Leistungsvergleich anstellen zu wollen: Hermann Buhl, ehemals (1942 – 1947) Kamerad im Kreise der Gipfelstürmer, gelang 1952 erstmals die Durchsteigung der Piz Badile NO-Wand (Bergell) im Alleingang. Wohl die meisten alpin Interessierten werden irgendwann auch die packende Beschreibung dieses Erlebnisses von Hermann Buhl in seinem Buch „Achttausend drüber und drunter“ gelesen haben. Trotzdem erinnere ich an die damals herrschenden Umstände, die es dem Hermann wahrlich nicht leicht gemacht hatten, diese Tour zum Erfolg zu führen. In Ermangelung eines motorisierten Fahrzeuges fuhr Buhl mit dem Fahrrad von Landeck durchs Engadin bis ins Bergell, stieg alleine durch die NO-Wand des Piz Badile und fuhr anschließend wieder mit dem Fahrrad nach Hause – praktisch ohne ausgiebig gerastet zu haben. Dieser Umstand wäre ihm fast zum Verhängnis geworden, auf der Heimfahrt ist er bei der Pontlatzer Brücke (vor Landeck) am Radl eingeschlafen und in den Inn gestürzt, konnte sich jedoch selbst befreien.

Diese Vorgeschichte ist deshalb interessant, weil man dadurch erkennt, dass direkte Vergleiche nie zulässig sind – die damalige Zeit hat Härten abverlangt, die heute niemand mehr auf sich nehmen würde. Wenn man von diesen äußeren Umständen absieht, so hatte die Sache natürlich auch noch eine innere Dimension, mit der Hermann Buhl sicher zeitweilig zu kämpfen hatte – „wird es überhaupt möglich sein allein durch diese riesige Wand zu steigen?“ Er war der Erste, das wog sicher schwer . . .

Irgendwann kam Reinhard Schiestl ebenfalls auf die Idee, einmal solo durch die Badile NO-Wand zu steigen. 32 Jahre nach Hermann Buhl, 1984 war es dann so weit. Reinhard fuhr mit dem Auto ins Bondascatal, wo alle Besteiger des Piz Badile losmarschieren. Von hier weg ist eine Betrachtung der Bewegung der beiden Kletterer interessant, denn beide stiegen allein durch dieselbe Route und kletterten anschließend über die Nordkante wieder zurück hinunter zu ihrem Ausgangspunkt im Bondascatal. Reinhard war in Hochform und kletterte bei guten Verhältnissen, nur die Ausstiegsrisse waren nass, „free solo“ (ohne Seil und Karabiner) in einem Zug durch die ganze Wand. Es sind nicht nur die elegant bewältigten Schwierigkeiten, sondern vor allem die unglaubliche Geschwindigkeit auf dieser „satten Wandhöhe“ im hochalpinen Gelände, die unsere volle Bewunderung abverlangt.

Warum ich diese beiden Leistungen gegenüberstelle ist einfach erklärt: Buhl ist über alle Zweifel erhaben, er hat eine tolle Alleinbegehung gemacht (er hat sich nur an den damals technisch gekletterten Längen gesichert) und dafür ca. 5,5 Stunden gebraucht. Dies ist als enorme Leistung zu sehen – in Anbetracht der Tatsache, dass damals die vorausgegangenen Begehungen von Seilschaften immer wieder mit Todesfällen geendet haben, es war diese erste Alleinbegehung zur damaligen Zeit wirklich eine Pioniertat.

Inzwischen hat es etliche Solobesteigungen dieser Route von R. Cassin gegeben, aber so wie Reinhard, der ohne jedes Hilfsmittel in einer Stunde und 20 Minuten durch diese 800 m hohe Wand kletterte, ist bis zu diesem Moment noch niemand durch die NW-Wand des Piz Badile hochgestiegen. Für Reinhard Schiestl war dies eine Tour wie viele andere, er hat keine Presse verständigt, er hat es lediglich bei uns im Klub der „Gipfelstürmer“ erzählt. Man kann zwar nicht mehr von einer Pioniertat sprechen, jedoch bestimmt um eine ebenso außergewöhnliche bergsteigerische Leistung wie jene von Hermann Buhl. Hier hat man gesehen, dass Reinhard in der Lage war, unter ähnlichen Voraussetzungen (abgesehen von der Anreise) Ähnliches zu leisten wie Hermann Buhl, ebenso sicher durch eine 800 m hohe VI- Wand zu klettern, nur, noch dazu mit einer Geschwindigkeit, die auf eine geradezu „traumwandlerische Sicherheit“ schließen lässt.

Bei der Betrachtung des Freundeskreises, in dem Reinhard Schiestl als Kletterer aufgewachsen ist, fällt ebenfalls eine Parallele mit Hermann Buhl auf. Buhl hat nach seiner Zeit bei der Innsbrucker Jungmannschaft die ersten großen alpinen Taten im Kreise seiner Kameraden der alpinen Gesellschaft „Gipfelstürmer“ (dessen Mitglied er von 1942 bis 1947 war) vollbracht. Auch Reinhard Schiestl kam nach der Jungmannschaft zu den Gipfelstürmern, wo er nicht nur viele Partner für seine alpinen Unternehmungen, sondern vor allem gleichgesinnte Freunde gefunden hatte, mit denen er bis zu seinem allzu frühen Lebensende stets in fachlicher Diskussion und in kameradschaftlicher Verbindung stand.

Behende wie eine Katze und schnell wie eine Gams:
Martinswand Ostriss – solo

Reinhard Schiestl gehörte in den 1990er Jahren zu den geschmeidigen, leichtfüßig sich bewegenden und wohl auch zu den schnellsten Kletterern seiner Zeit. Als Innsbrucker nutzte auch er die Martinswand für sein Klettertraining und ging alle Routen mehrmals und auch free solo. Als Sonderleistung sehen wir seine Alleinbegehung des Ostrisses, der normalerweise in 4 Seillängen geklettert wird und 150 Hm aufweist. Eine seiner Solobegehungen wurde von Martinsbühel aus betrachtet und zeitmäßig erfasst. Vom Einstieg bis zum Ausstieg benötigte Reinhard genau 11 Minuten.

Abgesehen von der Sicherheit, die für eine Alleinbegehung erforderlich ist, überrascht die gleichzeitig vorgelegte Schnelligkeit, die Reinhard als Selbstverständlichkeit auch bei seinen Sologängen an den Tag legte. Er war eben von Natur aus mit einem klettertechnischen Feingefühl begnadet, das ihn zu derartigen Leistungen befähigte. Bis dato ist keine ähnliche Superzeit am Ostriss bekannt geworden.


„Der leise Weg“
Reinhard Schiestl – Porträt eines großen Alpinsten

Nach dem tragischen (unverschuldeten) Verkehrstod von Reinhard Schiestl habe ich versucht sein alpines Lebenswerk und den Menschen Reinhard Schiestl in Buchform darzustellen. Grundsätzliche Überlegungen zur Gestaltung des Buches habe ich im Vorwort angesprochen. Auch in diesem Zusammenhang passen diese Darstellungen:

Zum Titel dieses Buches möchte ich Folgendes sagen: Natürlich habe ich mir lange überlegt, welcher Titel für das Porträt von Reinhard Schiestl passend wäre. Es war mir von vornherein klar, dass in irgendeiner Form das Wichtigste seines Charakters anklingen soll. Dabei habe ich mich des Filmbeitrages erinnert, der im ORF 1986 in der Reihe „Land der Berge“ ausgestrahlt wurde. Manfred Gabrielli vom ORF Tirol war so freundlich und hat mir den Film noch einmal vorgeführt, der in feinfühliger Art zwei Porträts von jungen Bergsteigern zeichnet, die in ihrer Art zwei gänzlich unterschiedliche Wege zur Selbstfindung im Gebirge gegangen sind.

„Der laute und der stille Weg“ ist die filmisch aufbereitete Gegenüberstellung der beiden Spitzenbergsteiger Thomas Bubendorfer und Reinhard Schiestl. Die aufwändige Lebensweise von Thomas Bubendorfer, der sich in Monte Carlo an der Cote d’Azur seinen Lebensraum eingerichtet hat, steht in krassem Widerspruch zur bescheidenen Art des Lehrers Reinhard Schiestl, der in Huben im Ötztal sich hauptsächlich um seine ihm anvertrauten Kinder bemüht und selbst ein Leben abseits von jedem Trubel und jeder Effekthascherei führt.

Es wird in eindrucksvollen Bildern gezeigt, wie Thomas in den Felsen über dem Mittelmeer in der kurzen Hose und mit nacktem Oberkörper frei und ohne Seil klettert, wie er in der mondänen Welt von Monaco im Aerobic-Club seinen Körper trainiert, und es wird auch vorgeführt, wie er über einen Eisfall frei hinaufklettert. Sehr interessant sind dann die Interviews, bei denen die Lebensart und seine Einstellung zum Bergsport und dessen mögliche Vermarktung sowie seine Vorstellungen von Erfolg, Ruhm und Anerkennung sehr gut herauskommen. Ganz deutlich beschreibt er selbst seinen fix eingeschlagenen Weg als Berufsbergsteiger, der nur dann Erfolg haben kann, wenn er ständig darauf bedacht ist, möglichst spektakuläre alpine Leistungen zu erbringen, die meistens mit irgendeinem Superlativ geschmückt werden können (der schnellste, der erste, der beste Bergsteiger).

Beim neuerlichen Betrachten dieses Filmstreifens ist mir persönlich das „Zum-Leben-Erwachen“ meines Freundes Reinhard besonders unter die Haut gegangen. Es ist fantastisch, mit welcher leibhaftigen Realität das Bild, die Bewegungen und die Sprache des Freundes auf derart qualitativ hochwertigen Filmdokumenten konservierbar ist. Abgesehen von diesen persönlichen Eindrücken ist die Darstellung der Lebensweise und der Charaktereigenschaften von Reinhard in dieser „Land-der-Berge-Sendung“ interessant.

Man sieht wie Reinhard seinen Schülern nicht nur das Lesen und Schreiben in der Klasse, sondern auch den Umgang mit dem Seil und die Sicherungsmethoden an den Übungsfelsen im Ötztal beibringt. Seine eigenen Trainingsfelsen, die ersten ganz schwierigen Boulderprobleme im Ötztal, die er eingerichtet und erschlossen hat, zeigt er in diesem Film durch eine free-solo-Begehung von „Schalldämpfer“ bei Astlehn im VIII. Schwierigkeitsgrad. Normal gekleidet und fürchterlich schnaufend, so wie es eben bei derartigen Schwierigkeiten zugeht – eben ganz ohne Effekte macht das der Reinhard – nur der mit Sportklettern direkt befasste Zuschauer kann hier die wahre Leistung erkennen.

Auch im Interview wird die im Gegensatz zu Thomas gänzlich konträre Einstellung Reinhards zu Erfolg, Ruhm und Vermarktung von großen Leistungen aufgearbeitet. Auch Reinhard freut sich über die Anerkennung seiner alpinen Taten, wenn sie aus Fachkreisen kommt. Nicht interessiert ist er dagegen, als Held von bergsteigerischen Leistungen von der Presse herumgereicht zu werden – oder sich gar selbst als solcher darzustellen. Reinhard kann sich ebenso an einer winterlichen Gratersteigung erbauen, wie er es liebt seine eigenen Grenzen an den „kletterbaren Unmöglichkeiten“ auszuloten. Seine Kondition und seine Fähigkeit immer noch höhere Schwierigkeitsgrade anzugehen, möchte er möglichst lange zu halten versuchen. Dabei würde er jedoch nicht ein Trainingsmodell, das ausschließlich für Sportklettern ausgelegt ist, durchziehen, da er in seiner Wertevorstellung auch noch Platz für andere schöne Dinge des Lebens haben muss.

Bei der Aufzählung der großen alpinen Leistungen der beiden, die in diesem Film erwähnt werden, fällt als Beispiel bei Bubendorfer seine schnelle Begehungszeit durch die Eiger-Nordwand in knapp 5 Stunden auf, die natürlich breit vermarktet wurde. Der Kommentar von Luggi Rieser weist klar darauf hin, dass dieser „Rekord“ nicht nur bereits eingestellt und sogar verbessert wurde, sondern, dass Schiestl im Falle eines speziellen Trainings dafür bestimmt in der Lage gewesen wäre, diese Zeit noch deutlich zu unterbieten. Typisch für Reinhard ist es, dass er für solche Ansinnen nicht das Geringste übrig hatte – es hatte für ihn keine Bedeutung, ob ein anderer schneller oder besser durch eine Wand steigen konnte, er hatte nur das eigene Erlebnis im Kopf – und freute sich natürlich, wenn ihm ein besonderes Stückl gelungen war.

Große, schwierige Wand in kürzester Begehungszeit:
Marmolada SW-Wand in 1 Stunde und 30 Minuten

Als Superbeispiel für seine Geschwindigkeit im schwierigen Fels erinnere ich an seine Solobegehung der Marmolada SW-Wand Soldá-Führe, die er in einer Stunde und 30 Minuten durchstieg. Jeder, der einmal vom Wandfuß der Marmolada über den Westgrat auf den Gipfel gestiegen ist, weiß, dass man sich ganz schön beeilen muss, wenn man in dieser Zeit auf dem Normalweg den Gipfel erreichen möchte. Wie das über einen Anstieg mit Schwierigkeiten bis VI+ über 600 Höhenmeter in einer derartigen Zeit funktionieren kann, ist so manchem Alpinisten schleierhaft – der Reinhard hat´s vorgezeigt. Diese Leistung ist wohl einzigartig in der alpinen Geschichte, dennoch hat man davon kaum etwas gehört, lediglich erwähnt wurde sie bei der Aufzählung von Besonderheiten.

Von Reinhard Schiestl gibt es noch zahlreiche alpinsportliche Besonderheiten in den verschiedensten Disziplinen des Alpinismus, hier sind nur einige seiner Spuren als Schnellkletterer vorgestellt. Ebenso hatte er besondere Enchainements zusammengestellt und an einem Tag begangen, alles Leistungen, die seine Wendigkeit und die dazu nötige Erfahrung und Kondition bestätigen. Mit Reinhard haben wir Gipfelstürmer einen Großen des Alpinismus verloren – in unseren Annalen hat er sich aufrichtige Anerkennung und ein ehrenhaftes Andenken verdient.

Walter Spitzenstätter


Walter Spitzenstätter

Walter Spitzenstätter

Walter ist als Tourenwart dafür zuständig, dass am Ende jeden Jahres die Tourentätigkeit unserer Mitglieder erfasst und archiviert wird. Dabei ist er auf den Fleiß der Kameraden angewiesen, die ihre Bergfahrten aufschreiben und als Liste abgeben sollten. Die meisten machen sich die Mühe und halten die Erfolge des Jahres fest, damit auch unsere Nachkommen noch erfahren können was in unserer Zeit im alpinen Bereich geschehen ist.