- Begehung am 22. Juli 1962 VI+ 7 Std. 150 + 400Hm
Mit Kurt Schoißwohl
Die Erstbegeher Herzog und Haber waren mit dem Erreichen der Eisschlucht durch die darunter befindliche Verschneidung, der Entwicklung der Leistungsfähigkeit beim Klettern weit voraus. 1922 gab es überhaupt noch keine annähernd so schwierige Kletterstelle, wie sie hier gemeistert wurde. Noch dazu die Kombination von Fels und Eis, sind Fakten, die eine beachtliche Zeitspanne bis zu den ersten Wiederholungen als gut erklärbar erscheinen lassen.
Dass es bis 1962 erst eine einzige Wiederholung der HA-HE Verschneidung gegeben hatte, übte auf uns eine ganz besondere Faszination aus.
Zum 20. Juli kam unser Freundeskreis auf der Falkenhütte zum Gedenken an Gottfried Potisk zusammen, der 1959 in der direkten Laliderer Nordwand durch Steinschlag ums Leben gekommen war. Robert Troier, Otti Wiedmann, Kurt Schoißwohl und ich wollten am nächsten Tag einen Versuch an der HA-HE Verschneidung starten.
Sonntag früh, beim ersten Blick nach dem Wetter sah man noch blauen Himmel, aber es war schon klar, dass dies nicht lange so bleiben würde. Robert und Otti war es einfach zu unsicher, sodass ich mich nur mit Kurt (Gaga) zum Einstieg auf den Weg machte. Unser Auftrieb war einfach zu groß, als dass wir uns hätten abhalten lassen, bevor es sich nicht als absolut unmöglich herausgestellt hätte.
1962 gab es noch genug Eis in der Schlucht, das bei warmem Wetter stets Wasser durch die darunter befindliche Verschneidung herunterrieseln ließ. Ehrfurchtsvoll betraten wir die ersten nassen Felsen. Erst gestern waren drei Münchner Kletterer (gute Leute) aus der Verschneidung zurückgekehrt – es war einfach zu feucht auf den schwierigen Platten. Wir wollten uns die Sache wenigstens bis zum Grottendach näher anschauen. Faszinierende Kletterei führte uns Seillänge um Seillänge mit höchster Vorsicht durch Risse, gelbe Verschneidungen und glatte Platten bis in die Vorgrotte und bald darauf in die Hauptgrotte.
Das Wetter hatte bereits umgeschlagen und es fing gerade an zu regnen als wir in die Grotte kamen – hier wurden wir nicht nass. Der Nebel hüllte die ganze Wand ein, Wasser schoss draußen über die unheimlich glatten Platten herunter, es war einfach trostlos.
Plötzlich hörten wir vom Wandfuß herauf die Stimmen unserer Kameraden Robert und Otti: „Kommt’s doch herunter, ihr Spinner!!“ Die Freunde in unserer Nähe, die wegen uns keine eigene Tour unternahmen, weil sie einfach zu gespannt waren wie es uns ergehen würde, bewirkten das glatte Gegenteil dessen, was sie eigentlich vernünftigerweise zu erreichen versucht hatten. Gerade in dieser Situation, obwohl sie uns durch den starken Nebel und Regen nicht sehen konnten, fühlten wir uns durch ihre Besorgnis in besonderer Weise bestärkt, doch auszuhalten und darauf zu hoffen, dass wir an diesem Tag noch eine Chance weiter zu klettern erhalten würden.
Gaga traf es gerade die nächste Seillänge vorzusteigen, was er auch gleich in Angriff nahm. Vom direkten Regen waren wir zwar noch geschützt, aber das gesamte Gelände war nass und teilweise sogar in den Rissen mit Moos bedeckt. Normalerweise geht man in den Grottengrund hinein und schlieft dann wahrscheinlich wie ein Aal, den nach unten offenen Kamin dem Dach entlang bis zum Stand. Gaga konnte sich diesen Weg zu gehen nicht vorstellen, weshalb er einfach die steile, nasse und brüchige Wandstelle gerade hinauf bis zum Stand unter dem Dach hinaufzuklettern versuchte. Später erfuhren wir, dass diese Länge direkt über die Grottenwand hinauf noch nie geklettert wurde. Er kämpfte sichtlich mit allen Tricks, setzte einen Haken in den Bruchhaufen und versuchte irgendwie das Gelände zu überwinden. Die Feuchtigkeit und der Rucksack in dieser Schwierigkeit ist eine Mischung, die einen Sturz praktisch vorprogrammiert hatte. Den Haken, in den er stürzte, nahm ich später beim Nachklettern ohne Hammer einfach in die Hand und nahm ihn mit leichtem Zug nach oben wieder mit . . .
Bereits bis hierher hatte Gaga Großartiges geleistet. Hier allerdings mussten wir uns entscheiden, ob wir umkehren sollten oder nicht. Ich hatte einen guten Stand im Trockenen am Grottengrund, den ich nicht verlassen wollte, weil wir hier die einzig gute Sicherung hatten. Gaga musste nun aber hinaus in den Regen bis zum Stand auf einem Köpfl, von dem aus die eigentliche Schlüssellänge begann. Die Argumentationen von Kurt waren getragen von unübertrefflichem Optimismus, den es in dieser Art wohl nur bei ganz wenigen Alpinisten gibt. Es war so irreal, wie er immer wieder „einen blauen Fleck“ irgendwo ganz kurz zu sehen behauptete, von dem er annahm, dass es nachmittags bestimmt wieder schöner werden würde. Gaga war förmlich gedopt durch seinen Auftrieb, der ihn an eine Umkehr einfach nicht denken ließ.
Vom Stand direkt unter der Grottendachkante muss man sich etwa 10m abseilen und auf Seilzug über glatte Platten auf ein Köpfl außerhalb der Grotte klettern oder pendeln. Hier machte Gaga im strömenden Regen Stand und verharrte, immer wieder mit erwartungsvollem Blick auf der Suche nach einem „blauen Loch“ in der Regenwand.
Die schlechten Haken und der starke Regen bewogen mich, nicht am Köpfl, sondern ca. 15m vorher im „Adlerhorst“, dem letzten Stand unter dem Grottendach, die Sicherung für ein etwaiges Weitersteigen von Gaga einzurichten. Bei derart starkem Regen in diesem glatten Gestein zu klettern war unmöglich. Mehrmals forderte ich Gaga auf, zu mir zurückzukommen, doch er sah immer wieder eine „herannahende Schönwetterfront“ und blieb beharrlich auf seinem Köpfl im strömenden Regen stehen.
Nach etwa 1,5 Stunden ließ der Regen etwas nach und Gaga wollte versuchen die Schlüssellänge anzugehen – ein ca. 20m hoher glatter, senkrechter Wandgürtel, der dann am Beginn der Eisrinne endet. Es ist hier alles besonders glatt und gänzlich ohne Ritzen, weil die Bäche, die aus der Eisschlucht hier herunterrauschen, alles blitze-blank polieren. Sein Versuch hier über dieses fast unmöglich erscheinende Stück hinaufzukommen war getragen von der Gewissheit, dass es danach kein Problem mehr geben wird. Also alle Konzentration auf diese 20m hohe Stelle, dann wäre der Weg frei bis zum Ausstieg.
Gaga versuchte links, er probierte rechts und nochmals, aber es ging einfach unmöglich. Ohne Haken war es viel zu schwer – wir verstanden jetzt den Entschluss der Münchner, die gestern in dieser Gegend umgekehrt waren. Gleichzeitig überkam uns aber große Ehrfurcht vor der überragenden Kletterkunst der Erstbegeher, die hier bereits 1922 (!) erfolgreich waren.
Es gab nur eine Möglichkeit hier doch noch eine kleine Chance auf Erfolg zu bekommen. Gaga musste seinen Rucksack zurücklassen und er musste auch noch das zweite Seil für mich frei machen, weil ich sonst nicht abseilen und zum Köpfl hinüberkommen könnte. Ob ich das alles schaffen würde, später über die Schlüsselstelle hinaufzuzaubern, ließen wir einfach offen – wichtig war nur mehr – es muss gelingen diese letzten 20m hinaufzukommen.
Beim dritten Versuch unter Anwendung aller Tricks aus seiner Kletterkunst-Kiste, gelang es Gaga tatsächlich diese 20m hohe Wandstelle trotz Nässe ohne Zwischensicherung zu überlisten und dadurch das Ende der Hauptschwierigkeiten zu erreichen. Es ist unglaublich was man alles, allein durch unbändigen Willen und Glauben an den Erfolg, erreichen kann.
Nun war aber ich an der Reihe mit zwei Rucksäcken und einem zusätzlichen Seil obendrauf, eine senkrechte, nasse, äußerst schwierige Stelle hochzuklettern, die Kurt ohne Gewicht gerade noch geschafft hatte. Das war einfach unmöglich. Auch Gaga hatte sich am Stand darauf eingerichtet, dass er mir ordentlich Zug geben konnte. Ohne diese Hilfe hätte ich mit dieser „Ausrüstung“ keine Chance gehabt hier hochzukommen. Die beiden Rucksäcke mit Eisausrüstung und Biwak Zeug hatten ca. 35kg, die ich über die VI+ Stelle zu befördern hatte. Meine allerletzte Kraft musste ich aufwenden, um hier zu reüssieren.
Unsere Freude darüber, dass wir nun die dritte Seilschaft waren, die während dieser 40 Jahre durch diese Verschneidung erfolgreich aufgestiegen sind, war derart intensiv, dass uns der restliche Anstieg durch die Eisrinne nicht mehr beeindrucken konnte. Wir fanden ideale Verhältnisse vor – harten Firn in der 400 Hm hohen, ca. 45° geneigten Eisrinne. Besonders reizvoll empfanden wir die Sicherungsmöglichkeiten am Rande der Eisrinne, wo wir immer eine Verwechtung vorfanden, wo der Sichernde jeweils zur Gänze dahinter verschwinden konnte. Ohne nennenswerte Schwierigkeiten kamen wir schließlich auf den Grat zwischen Grubenkar und Dreizinkenspitze.
Die damals wahrscheinlich schwierigste alpine kombinierte Eis- und Kletterfahrt Tirols war uns somit gelungen. Trotz Nebels fanden wir mittels Höhenmesser genau zum Spindlerabstieg und dann hinunter zur Falkenhütte. Unsere Kameraden gratulierten uns herzlich und unser Freund Peter Kostenzer, der Wirt der Falkenhütte, sorgte für eine kräftige Stärkung, die wir mit einigen Krügeln Flüssigkeit verdünnten. So wurde es ziemlich spät, bis wir endlich nach Hause kamen.
Dank des unbändigen Optimismus von Kurt, hatten wir eine klangvolle Wiederholung einer alpingeschichtlich außergewöhnlichen Route an den imposantesten Wänden unserer Heimat realisieren können.
Walter Spitzenstätter