Ein Leben mit und für die Gipfelstürmer
21.04.1918 – 02.04.2020
Die Geschehnisse des „Jetzt und Heute“ sind das, was wir Gipfelstürmer als höchstes Gut unserer Lebenseinstellung genießen. Ob es beim Klettern oder beim Skifahren ist, das jeweilige Erleben des Abenteuers Berg zählt und macht uns in der Gegenwart glücklich. Besonderen Wert erreichen die Erlebnisse je älter wir werden. Die Erinnerung an besondere Taten des eigenen Erlebens beflügelt unsere Fantasie insbesondere dann, wenn wir diese mit unseren Kameraden gemeinsam empfunden haben. Der Wert des Begleiters spiegelt sich mannigfaltig wider, sei es als Kletterpartner, als Denker und Planer, als Warner bei nötiger Vorsicht, als Helfer und Unterstützer in schwierigen Situationen oder als jener Teil einer Gesellschaft, der durch seine Erzählungen wahrgenommene Empfindungen lebendig werden lässt.
Ein Teil des Phänomens „Gipfelstürmer“ ist diese Tradition des Erzählens was „die Alten“ so alles getrieben haben. Ein wahrer Meister dieser Gepflogenheit war unser Heli Franz. 1937 bei den Gipfelstürmern aufgenommen, kannte er noch alle Gründungsmitglieder, die ihm die grundlegenden Werte der Gesellschaft vermittelt hatten. Diese waren geprägt vom Willen der klettertechnischen Erschließung unserer Heimat, vom hohen Wert der Kameradschaft, dem Zusammenhalt im Verein und auch von einer Gesinnung zur Freiheit in fast absoluter Vorstellung. Vor allem am Berg waren die Gipfeler immer vollkommen frei – sie ließen sich von niemandem bevormunden, suchten sich ihre Wege, wo immer und wie schwierig sie auch sein mochten, allein selbst. Allerdings bezog sich die Vorstellung von Freiheit auch auf den gesellschaftlichen Bereich. Besondere Vorschriften für geregelte Abläufe bei den Vereinsabenden, die vom Gründer Konrad Schuster eingeführt und später vom Lehrer Toni Plattner intensiviert wurden, sind bei den freiheitsliebenden Gesellen der Gipfelstürmer nicht gut angekommen und haben Einiges an Unfrieden gestiftet.
Heli Franz, der später zum Vorstand gewählt wurde, hat dann mit besonderem Feingefühl „Ordnung“ und Aufmerksamkeit in die Klubabende gebracht. Es war eine Mischung von Anstand, Haltung und dennoch Freiheit im Umgang miteinander, die die Jungen während der Zeit seiner Vorstandschaft zu einer verschworenen Gesellschaft machten, welche das Gefühl „Gipfelstürmer zu sein“ als so wertvoll empfanden, dass die Mitgliedschaft als lebenslange Bindung fast selbstverständlich erschien.
Unter anderem wirkten die Erzählungen über die Untaten unserer „Urgesteine“ Hannes Schmidhuber, Toni Mader oder Ertl Naz als leuchtende Beweise für die „wahre Freiheit“, die bei den Gipfelern herrschte . . . Jedenfalls hat sich dieses Freiheitsgefühl durch Generationen als wertvoll behauptet und gilt auch heute als wesentlicher Bestandteil unseres gesellschaftlichen Verständnisses. Waren die rauen Geschichten wohl zum erstaunten Lachen geeignet, so haben sich doch jene Erzählungen als wahrlich wertvoll erwiesen, die von den Erlebnissen beim Klettern berichteten. Es ist das Verdienst von Heli Franz, dass der Bericht über die Bergtouren aller anwesenden Kameraden bei jeder Kneipe ein Fixum wurde, das sich bis heute gehalten hat und sogar als Grundstock für die Lebendigkeit des alpinen Vereins empfunden wird.
Die Leistungen
des jungen Heli Franz als Kletterer (Martinswand 1. Alleibegehung), der vor allem mit Kuno Rainer eine große alpine Zukunft vor sich gehabt hätte, wäre nicht der Krieg dazwischen gekommen, sind in früheren Festschriften gewürdigt worden. Auch jene einmaligen Tourenziele (Fußsteinkante, Roggalkante, Mount Kenya), die Heli später als Einarmiger mit seinen Gipfelstürmerkameraden verwirklicht hat, wurden bereits mehrfach beschrieben. Dieses einschneidende Ereignis an der Eismeerfront, bei der Heli seinen Arm verloren hatte, bedeutete für ihn den Verlust des höchsten Gutes, das er als Lebensinhalt empfand – es bewirkte das Ende des extremen Kletterns. Bewundernswert ist seine Einstellung zu diesem Schicksalsschlag. Er rang sich dazu durch das Unveränderliche anzunehmen und sein Leben trotz allem positiv zu bewältigen. Heli entwickelte eine unglaubliche Ausdauer in allen Bereichen, die im Leben nach dem Unfall auf ihn zukamen. Er entschloss sich den Arm nicht amputieren zu lassen, obwohl er gänzlich gelähmt und somit unbrauchbar war und außerdem ständig Schmerzen verursachte.
Im Bereich Alpinismus verstand es Heli, seine eingeschränkten Möglichkeiten durch ständiges Training von Ausdauer und Kraft derart zu überbrücken, dass er dennoch zu erfüllenden Erlebnissen gelangen konnte. Auf beruflicher Ebene konnte Heli mehrfach auf Unterstützung von Bergkameraden zurückgreifen, die es ihm ermöglichten als selbständiger Einzelunternehmer soweit erfolgreich zu sein, dass er in der Lage war seine Familie zu erhalten und für sich jene Ziele angehen zu können, die ihm so viel bedeuteten. Seine Verantwortung als Familienvater hat Heli mit allem was ihm zur Verfügung stand wahrgenommen.
Seine Tochter Maria
erzählt uns wie es der Vater verstanden hatte Verantwortung gegenüber der Familie und seine Leidenschaft für die Berge „unter einen Hut zu bringen“:
„Mein Vater war ein ruhiger, besonnener und in sich gekehrter Mann. Er war kein Freund von langen Reden, aber ein begeisterter Bergsteiger, Kletterer und Tourengeher – ein überzeugter „Gipfelstürmer“. Allein das Wort „Gipfelstürmer“ – so wie er es aussprach – hatte auf mich eine besondere Wirkung! Es lag so viel Wertschätzung und Begeisterung darin, dass ich das unbedingte Gefühl hatte dazugehören zu wollen. Was aber unmöglich war, da der Verein nur Burschen und Männern vorbehalten und ich ein Mädchen war.
Es war ein besonderer Tag, wenn er mich auf Tour mitgenommen hatte. Darüber hinaus war ich immer wieder fasziniert, wenn er von seinen Bergfahrten erzählte, von seinen Kameraden, mit denen er diese Leidenschaft teilte. Die Begeisterung war ansteckend, seine Augen strahlten, die Freiheit und Unbeschwertheit, die er beim Bergsteigen erlebte, waren für mich spürbar.
Einmal ging er mit meinem Bruder Matthias und mir von der Seegrube aus auf das Brandjoch. Er hat uns beide angeseilt, an einer Reepschnur. Ich kann mich gut erinnern, wie stolz ich auf dem Gipfel war. Der Abstieg erfolgte dann allerdings bis ins Tal zu Fuß und ich weiß noch wie unser Vater am nächsten Tag erzählte, dass er von Büchsenhausen rückwärts bis in die Innstraße gehen musste, weil er einen so starken Muskelkater davongetragen hatte. Ein weiterer Höhepunkt war die Kleine Ochsenwand in den Kalkkögeln anlässlich einer Totengedenktour im Oktober. Und an eine weitere Tour erinnere ich mich noch genau: Wir starteten vom Kellerjoch aus zum Kuhmesser. Es war eine Generationen-Tour – Vater, Tochter und Enkelin! Diese drei Bergtouren sind mir in besonderer Erinnerung geblieben. Ich fühlte mich immer sicher und durfte die Leidenschaft für das Bergsteigen miterleben!
Unser Vater teilte seine Erlebnisse mit uns in seinen Erzählungen, allerdings hielt er uns auch auf Abstand. Ich hatte das Gefühl, dass er große Sorge hatte, es könnte uns etwas Schlimmes zustoßen! Ich hatte auch das Empfinden, dass er diese Auszeit in den Bergen und im Verein für sich brauchte, um Kraft zu tanken und dadurch die tragischen Erlebnisse des Kriegs und seiner Verletzung erträglicher wurden.
Keiner von uns ist in seine Fußstapfen getreten und ein herausragender Bergsteiger*in geworden. Allerdings hat er uns seine Liebe zur Natur, zu den Bergen und der Bewegung vorgelebt und mitgegeben.“
Die Lebensgeschichte
von Helmut Franz zeigt eine Summe all dessen, was uns während des Aufenthaltes auf diesem Planeten begegnen, belasten, aber auch erfüllen kann. Die Dauer dieses Lebens mit 102 Jahren gibt Zeugnis dafür, dass Heli wirklich alle Höhen und Tiefen durchmachen durfte, bzw. musste. Heli hat seinen Kameraden gegenüber eine Herzlichkeit entgegengebracht und war als Vorstand (bis zuletzt Ehrenvorstand) ein wahres Vorbild, der auch immer als ausgleichende Instanz tätig war, wenn es um die Schlichtung bei ausufernden Ereignissen ging, die im Zuge unserer ungestümen „Sturm und Drang-Jahre“ zu entgleisen drohten.
Als einer, der Heli Franz besonders nahe stand und eine gewisse Wesensverwandtschaft fühlte, fasst Helmut Ohnmacht seinen Blick auf unseren Freund zusammen:
„Das Leben durchlebte Heli in zwei grundlegend verschiedenen Lebensabschnitten und ist er dabei, trotz wesentlicher, tragischer Eingriffe des Schicksals in dieses immer der gleiche geblieben. Der erste Abschnitt endete irgendwo an der Front, im 2.Weltkrieg im hohen Norden Norwegens als er seinen Arm verlor. Bis zu diesem einschneidenden Zeitpunkt war er beseelt von einem Tatendrang, welcher für die weitere Zukunft nach dem Kriege alpinistische Höchstleistungen erwarten ließ. Der zweite und letzte Abschnitt dauerte bis über seinen Hunderter hinaus, war aber nicht weniger spektakulär. Es gelangen ihm als „Oantatzler“ noch alpinistische Leistungen in den Felswänden seiner Heimat und auch in den Westalpen, die ihm die Bewunderung der alpinen Welt einbrachten. Manch einem wäre dies möglicherweise in den Kopf gestiegen, nicht aber dem Heli – er war zeitlebens bescheiden geblieben, manchmal mit einem besonderen Schmunzeln auf den Lippen. Heli war als Kamerad geschätzt, der stets hilfsbereit, zuverlässig und dabei unaufdringlich seinen Weg ging. Ehrlichkeit und Bescheidenheit als Mensch waren sein Rückgrat. Wenn er manchmal die Rührung vor Glück nicht verbergen konnte und still eine Träne zerquetschte, wie z. Bsp. am Gipfel des Petz als er im hohen Alter von 77 Jahren noch das Gamsband bezwungen hatte, so war dies eine Ausnahme.
Auffallend war sein Erinnerungsvermögen – was man ihm versprochen, aber zwischenzeitlich vergessen hatte, forderte er noch nach Monaten mit Nachdruck ein. Versprechungen macht man nicht leichtfertig, sie waren einzuhalten, das hat er uns gelehrt. So hat er die Gipfelstürmer, als nicht leicht zu bändigende Individualisten, mit weiser Hand geführt, stets das Ziel im Auge behaltend – den Zusammenhalt und die Menschlichkeit. Wie es die hohe Anzahl und aufrichtige Ergriffenheit seiner Gipfelstürmer am Grabe belegt, haben wir erkannt wen wir verloren haben.“
Vor der Bescheidenheit, die Heli Zeit seines Lebens an den Tag gelegt und mit der er auch sein beachtlich hohes Alter gemeistert hat, werden wir uns stets verneigen und uns auf diese Weise an den Freund und Kameraden erinnern, der all das besaß, was wir so schätzen . . .