Petite Dru Bonattipfeiler 10. Beg.
20. – 25. Juli 1960 Fast zu kühner Plan für „Junge Stürmer“
Die nächste Steigerung beim Klettern hatte sich schon in meinem Kopf festgefressen. In den Westalpen im Granit an einem mächtigen Berg zu klettern, war der große Traum. Friedl Purtscheller, der Mineraloge, war mit seinem Kollegen Egon Horak im Sommer im Mt. Blanc Gebiet auf Forschung unterwegs und wollte gerne eine schneidige Tour mit mir unternehmen. Wir verabredeten uns in Chamonix zu treffen. Ohne Handy, ohne Adresse kam es wie es kommen musste, wir fanden uns nicht. Nur durch Zufall trafen wir dann beim Einkaufen zusammen und konnten unser geplantes Abenteuer angehen.
Ich werde nie vergessen, wie ich in Chamonix am Bahnhof ankam und in Richtung Westen den Mt. Blanc suchte. Der Berg ist wirklich hoch, dachte ich, aber da ist etwas, das kann es nicht geben: Das schaut aus, als wäre es Gletschereis, das da bis zur Straße herunterreicht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es wirklich der Gletscher ist, der fast bis ins Tal reichte, bis auf eine Höhe von ca. 1200m!
Biwak unter dem Einstieg
Mit „Puti“, wie wir den Friedl nannten, stieg ich von Montenvers zum Biwak am Grand Rognon auf, wo wir noch ein feines Einstiegsbiwak genießen konnten. Am nächsten Morgen ging’s dann durch das steile Couloir unter den Flammes de Pierre hinauf zum Einstieg. Anfangs eine harte Firnauflage, dann teils blankes Eis, ohne Steigeisen wäre hier nichts zu machen gewesen, ein wahrhaft ernstes Westalpencouloir. Jedenfalls waren wir sehr beeindruckt von dem tollen Tiefblick auf das 1000Hm tiefer liegende Montenvers, als wir endlich am Einstieg waren. Puti, der Eisspezialist, war im Couloir der große Meister, jetzt im Fels, durfte ich vorausklettern.
Schon an den ersten beiden Seillängen erkannten wir, welch schlechte Verhältnisse wir hier vorgefunden hatten. Dünnes Wassereis überzog immer wieder den Fels, in den Rissen lag Schnee und Sicherungspunkte waren nur sehr spärlich vorhanden. Vor allem aber spürten wir die 15kg, die jeder von uns am Rücken zu tragen hatte. Wir hatten auch etliche Haken mit und 3 Holzkeile, ein schönes Geklimper, aber gerade darauf sollte es ankommen, wenn uns tatsächlich der Durchstieg bis zum Gipfel gelingen sollte. Besonders benötigt wurden die U-Haken, die in den parallelen Granitrissen meistens gut zu platzieren waren. Wenn der Riss breiter wurde, musste immer wieder einmal ein Holzkeil herhalten, der manchmal die einzige Lösung für die Überwindung einer heiklen Stelle darstellte.
Auch haben wir gleich am Anfang schon bemerkt, dass in der Route bei weitem nicht alle Haken vorhanden waren, die man zur Fortbewegung unbedingt benötigt. Später haben wir erfahren, dass man kurz vor uns den Pfeiler ziemlich ausgenagelt hatte. 1955 hatte Walter Bonatti durch diese Erstbegehung, für die er im Alleingang sechs Tage benötigt hatte, eine absolute alpine Topleistung erbracht. Wir waren jetzt die 9. Seilschaft, die Bonatti auf diesem kühnen Weg folgte. Unsere Hoffnung genügend Haken vorzufinden, wurde arg enttäuscht. Ich musste in jeder Seillänge etliche Haken schlagen, die dann Puti beim Nachkommen alle wieder herausschlagen musste, weil wir auf diesem 750m hohen Pfeiler durchwegs Gelände zu meistern hatten, das wir unbedingt mit Haken absichern mussten.
Das erste geplante Biwak
Auf der Höhe der Flammes de Pierre richteten wir uns für das erste Biwak ein. Ein guter Platz, der allerdings erst mit dem Pickel vom Schnee befreit werden musste. Eine lange, kalte Nacht verbrachten wir hier relativ gut, weil wir uns wenigsten ganz ausstrecken konnten. Am Morgen war es so kalt, dass ich Puti bat die erste Länge voraus zu klettern, was er auch prompt übernahm. Langsam kam ich dann wieder in einen Bewegungsfluss hinein, sodass es ab der zweiten Länge wieder im Vorstieg weiterging.
Die Holzkeile sahen schon etwas mitgenommen aus, als Puti immer wieder gehörig draufhauen musste, um die Dinger wieder frei zu bekommen. Steile Risse, Überhänge, schwierige Passagen wurden wechselweise geboten, bis wir am Nachmittag am Biwakplatz der Zweitbegeher ankamen. Das Risiko weiter oben in der Dunkelheit in den Schlingen biwakieren zu müssen, nahmen wir nicht in Kauf und richteten uns hier zum zweiten Biwak ein. Bald trübte es ein und dichter Nebel umhüllte uns. Auf einem abschüssigen Band, auf dem wir nur untereinander Platz zum Sitzen hatten, schlüpften wir in den Zdarskisack und warteten die lange Nacht ab.
Wettersturz
Noch vor Mitternacht begann es zu schneien und bald waren wir mit einer dicken Schneeschicht zugedeckt. Am Morgen sahen wir mit Schrecken das ganze Ausmaß des Wettersturzes. 10 cm Neuschnee lag auf allen Bändern und der Wind hatte den lockeren Schnee auch in sämtliche Ritzen und Kamine geweht. Wir saßen in einem Schneehaufen, hatten nasse Hosen und die Seile waren bocksteif gefroren und mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Zunächst dachten wir, dass es hier in nächster Zeit unmöglich sein würde zu klettern.
Wir dachten schon beide, dass es nicht mehr lange dauern würde bis wir es beide nicht mehr aushalten vor lauter Hunger und schon deshalb dem Rest des endlosen Pfeilers nicht mehr gewachsen sein könnten. Wir hatten nämlich nur ein Stück Brot und ein Stück Wurst für jeden und dazu eine Dose Ovomaltine für beide zusammen mitgenommen. Das war Proviant für zwei Tage, aber nicht für fünf . . . Nun hieß es halt einteilen. Jeden Tag nahmen wir nur die Hälfte des kleinen Restes zu uns, der übrig war, weil wir ja mit noch einem weiteren Tag rechnen mussten. Als Tagesration war dann die Hälfte von der Hälfte von der Hälfte bei weitem nicht mehr ausreichend, um genügend Energie für die zu erwartenden Schwierigkeiten und Belastungen zuführen zu können.
Beim ersten Versuch ein Stück zu klettern, bekam ich gleich eine ganze Lawine in den Nacken, sodass ich gleich wieder aufgab. Sollten wir um Hilfe rufen? Nein – das kam überhaupt nicht in Frage, darin waren wir uns einig. Solange wir uns bewegen konnten, gab es nur eins: Voller Einsatz und fester Glaube an den Erfolg! Ich wollte unbedingt irgendetwas unternehmen. So versuchte ich erneut das unmöglich scheinende Gelände zu überlisten. Mit viel Geduld und ständigem Handschuhe aus- und wieder anziehen, Haken schlagen und mit geballter Faust in parallelen Rissen glatte Wandstellen überwindend, gelang tatsächlich eine langsame, aber stete Fortbewegung. Zwei Stunden für eine Seillänge, das sind Verhältnisse wie wir sie auch von Winterbegehungen nicht anders kannten. Ca. drei Mal „Noanigl“ musste ich bei jeder Länge abwarten, das dauert jedes Mal ca. 4 Minuten, da kann man nichts angreifen, da muss man pausieren, da ist man schon froh, wenn der Schmerz überhaupt wieder einmal aufhört.
Nach weiteren schwierigen Seillängen kamen wir zur Schlüsselstelle, dem Dach. VI A3, wir hatten uns schon auf das äußerste eingestellt, aber der reale Anblick war noch viel schlimmer als erwartet. Ein riesiger Eiszapfen hing genau in dem Dach, wo man drüber schlossern wird müssen. Das Ende schien erreicht. Da sah ich gerade hinauf über die glatte, überhängende Platte und bemerkte weit oben einen Haken. Ich erinnerte mich, davon gehört zu haben, dass hier eine direkte Variante eröffnet worden ist, bei der man nicht über das Dach klettern muss. Wenigstens kein Eis ist in dem Riss. Behutsam nagelte ich mich den überhängenden Riss hinauf bis zu dem Haken, den ich bei der ersten Berührung gleich in der Hand hatte. Weiter ging’s anstrengend unter Verwendung meiner letzten Haken, die ich zur Verfügung hatte. Sogar die Karabiner gingen mir aus, sodass ich nur mehr einmal einhängen konnte. Der Riss hing weit über und als ich es tatsächlich geschafft hatte und den Schlingenstand nach kompletten 40m erreichte, war klar – das war die Schlüsselstelle. Später erfuhren wir, dass wir hier die zweite Begehung dieser Variante gemacht hatten, die von den Erstbegehern völlig ausgenagelt worden war. Auch wir mussten natürlich wieder möglichst viel von unserem Material herausholen, wenn wir in den oberen Seillängen noch etwas zur Verfügung haben wollten.
Noch eine sehr steile Stelle und drei Längen Fünfergelände, das wir mit dem Schnee und dem schweren Rucksack auch wieder als reinen Sechser empfanden, dann fühlten wir, dass wir die Hauptschwierigkeiten langsam unter uns gebracht hatten. Wir waren am dritten Biwakplatz der Zweitbegeher. Hier richteten wir auch unser drittes Nachtlager im Pfeiler ein. Der ganze Schnee musste weggeräumt werden, dann hatten wir einen verhältnismäßig geräumigen Platz zum Sitzen. Die Nacht wäre nicht so schlimm gewesen, wenn uns nicht so sehr der Hunger geplagt hätte.
Der vierte Tag – jetzt wird’s hart
Um 7h früh ging’s wieder los. Die ersten 10m mit dem Daunenzeug, dann ausziehen, damit die Bewegungsfreiheit besser wird. Etliche Seillängen gab es noch bis auf die Schulter. Puti ließ nun mehr und mehr die Haken stecken, weil wir schon bald hofften den Gipfel zu erreichen. Von der Schulter gibt es noch zwei Längen V+, dann waren wir endlich bei der Gipfelmadonna des Petit Dru angelangt. Gerade in der letzten Länge musste ich noch einmal alle Kräfte mobilisieren, um den Ausstieg zu schaffen. Ich war buchstäblich am Ende meiner Kräfte. Mit 19 Jahren war eine derartige Herausforderung mit 76 Stunden Kletterzeit einfach zu früh angesetzt, das ist mir hier klargeworden. Trotz Sonnenschein am Gipfel, konnte richtige Freude nicht aufkommen. Wir wussten, der Abstieg ist auch noch zu meistern. Und der ist nicht nur weit, sondern auch schwierig.
Puti fand einen Abseilhaken an dem wir gleich das erste Mal hinunterfuhren. Das Wetter zog schon wieder zu und der Nebel hüllte uns erneut ein. Immer wieder mussten wir suchen, bis wir den nächsten Abseiler gefunden hatten. Im unteren Drittel mussten wir dann über eine Stunde warten, bis wir halbwegs Sicht hatten, um den weiteren Abstieg antreten zu können. Viel zu schnell wurde es dämmrig. 1000 Hm abseilen fordert einen gewissen Zeitaufwand, überhaupt, wenn der Fels mit 10cm Schnee bedeckt ist.
Alles beeilen half nichts, die fünfte Nacht nach unserem Aufbruch fiel auf uns hernieder. Auf einer winzigen Leiste am Rande des letzten 300m hohen Couloirs mussten wir die Nacht zubringen. Es war das grausamste aller Biwaks. Wir hatten keine Chance nebeneinander zu sitzen, so konnte nur einer den Biwaksack verwenden, der andere musste die ganze Nacht das fahle Gesicht des Mont Blanc betrachten. Wenn jemand ein klassisches Beispiel für gelebte Bergkameradschaft hören möchte, dann erzähle ich diese Situation. „Du hast alles geführt, Du hast Dich eh zum Schluss ganz verausgabt, nimm lei Du den Zdarskisack!“, sagte Puti mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es ein Vergnügen, hier ganz ohne Schutz direkt neben dem Eis eine lange Nacht zu verbringen.
Auch das fünfte Biwak ging irgendwann zu Ende
Die Stimmung in dieser fünften Freinacht, die wir auf diesem Abenteuer erlebten war einerseits geprägt von Kälte, Müdigkeit und Hunger, aber andererseits auch von Hoffnung auf ein gutes Ende und für mich war es eine Stimmung von Kameradschaft, wie man sie nur in derart extremen Situationen erleben kann. Wenn Puti wieder einmal klapperte wie ein Storch auf dem Dach, weil er so fürchterlich kalt hatte, dann drehte er einfach „Radio Dru“ auf – d.h. er begann zu singen. Wie komisch das klang, kann nur jemand ermessen, der Puti je singen gehört hat. Manchen Leuten gefällt das einfach nicht, sie finden die Töne nicht harmonisch genug. Mir hat es jedenfalls die Zeit vertrieben und auch prächtig gefallen, ich konnte nämlich den Apparat auf jedes beliebige Stück einstellen.
Auch diese letzte Nacht ging irgendwann einmal vorbei und wir brauchten nur mehr die letzten Meter im Couloir abseilen, dann standen wir auf dem Charpoua-Gletscher und erreichten bald die Hütte, wo uns Egon Horak erwartet und hier bange Stunden verbracht hatte, bis er uns kommen gehört und endlich auch gesehen hatte. Nach der ersten vorsichtigen Kalorienzufuhr machten wir uns weiter auf den Abstieg und erreichten später unseren Ausgangspunkt in Montenvers.
Den damals schwierigsten Anstieg im Mont Blanc Gebiet als 10. Seilschaft bei schlechtesten Bedingungen erfolgreich durchstiegen zu haben, bedeutete für uns einen sehr großen Erfolg. Es war das Ganze an der Grenze unserer Möglichkeiten, aber die Zuversicht für die Erweiterung unseres alpinistischen Horizontes wurde dadurch wesentlich gestärkt.